DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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Foto (c) Caterina Rancho

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DER DIKTATOR

Premiere: 7.11.2018

 

„Das iss ja ganz winzig.“ „Ja, eingedampft“. Der kleine Dialog, den der Besucher aus der zweiten Reihe des Studios der Neuköllner Oper hören konnte, zielte natürlich auf die äußere Form der Bearbeitung und die Kleinheit des Aufführungsraums, in dem außer den 44 Sitzplätzen lediglich ein paar Quadratmeter zur Verfügung stehen, um Ernst Kreneks „Der Diktator“ in Szene zu setzen und in einer Triobesetzung zu musizieren. „Das iss ja ganz winzig“ - man würde es gern auf den „Diktator“ und all diejenigen beziehen, die zur Zeit in der Welt für Unheil sorgen: die Trumps, Erdogans und Orbans, die Diktatoren, denen ein Großteil der Bevölkerungen auf den Leim geht. Ähnliches wird im Einakter verhandelt: denn es ist gar nicht so leicht, einen Mann zu erschießen, der einen enttäuscht hat, und der nun (erfolgreich!) allen Charme aufwendet, um die Kugel von sich abzuwenden.

Worum geht’s? Barbara Zuber hat im Münchner Programmheft einer der ganz wenigen Inszenierungen der letzten Jahre die knappe Handlung knapp zusammengefasst: „Es handelt sich um die Fehde einer jungen Frau namens Maria, die ihren Ehemann, einen durch eine Kriegsverletzung erblindeten Offizier, rächen und den allein an seinem Unglück schuldigen Diktator töten will, von diesem jedoch verführt wird. Am Ende hat sich alles umgekehrt. Als Charlotte, die eifersüchtige Gattin des Potentaten, ihren Mann erschießen will, wirft sich Maria dazwischen und stirbt anstelle des Diktators.“ Krenek hat Ende der Zwanziger Jahre einen konkreten Diktator vor Augen gehabt: den Duce, also Benito Mussolini. Der Diktator der Inszenierung von Ariane Kareev tritt in einem (von Julia Denzel entworfenen) Kostüm auf, das ein bisschen futuristisch anmutet, freilich auch an die Zukunftsvisionen, die in der Entstehungszeit des ersten der drei als Einheit konzipierten Einakter en vogue waren. Dem Programmheftchen liegt nicht zufällig ein Einlegeblatt mit einem Ausschnitt aus Marinettis Manifest des Futurismus bei. Zukunft aber scheint immer zu sein, wo die Gegenwart und die Verführungskraft durch den Populismus – dies das eingestandene Grundthema der Inszenierung – so übermächtig sind. Scheinhaft aber sind schon die blauweißen, wie von Wolkennebeln durchzogenen Bänder, die sich von der Bühne in den Zuschauerraum ziehen. Der Bühnenentwurf Lina O. Nguyens suggeriert eine Idylle, die seinerzeit nicht einmal mehr in der Schweiz zuhause war, in der der bezeichnenderweise namenlose Diktator mit seiner gleichsam gelind futuristisch gewandeten Gattin Urlaub macht.

Überhaupt die Farben: Maria ist ein weißrotes Mädchen, Ring in der Nase, knallrote durchsichtige Plastikschirmmütze, ihr Mann eine dunkle Elendsgestalt. Versteht man den Text, den sich Krenek selbst zurechtschrieb, nicht genau, könnte man den Einakter für eine relativ banale Geschichte, ja: „eine blutige Mordgeschichte aus dem Leben eines Diktators“ (wie Krenek schrieb) halten: eine scheinbare Liebes- und Totschlaggeschichte im Quadrat. Tatsächlich liegt der Sinn etwas tiefer.

Der Politgaukler benutzt die Gewalt zur Sättigung eigener Lüste, was unbedeutend wäre, würden sich damit nicht die Schicksale ganzer Völker verbinden. Des Diktators „Ethos“ - nennen wir es so – schwankt zwischen Nihilismus, Größenwahn und einem falsch verstandenen Heroismus: „Gewalt reizt Gewalt, und die stärkere siegt. Das Gesetz meines Lebens und meiner Einsamkeit. Gefahr zu suchen und zu bändigen. Großes zu bewegen und den Menschen meinen Willen aufzuzwingen.“ Musikalisch entlädt sich diese Sprache in auffahrenden Gesten, in den Duetten mag ein pardierter Puccini nicht fern sein, eine angedeutete Atonalität verschrägt das Ganze, nicht allein am Ende triumphiert die Dissonanz. Wie gesagt: Wenn der Zuhörer alles verstünde… denn hier steht es schlecht. Da insbesondere beim Diktator, also Lawrence Halksworth, die Verständlichkeit gegen Null tendiert, auch die anderen Protagonisten, wenn sie im kleinen Raum dynamisch überdrehen, das Verständliche in irgendeinen Hallraum gerät, nimmt das tiefere Interesse an den wahren Konflikten beim Zuschauer, der es genau wissen will, vermutlich schon bald ab. Kommen hinzu die Texte, mit denen die Produktion die nur 26 Minuten lange Originaloper mit und ohne Musik angereichert hat. Etliches bleibt ein Rätsel: Soll das Lyrik sein? Ist es Dokumentartheater? Was will man uns sagen? Man ahnt es mehr als dass man es aus dem Mund der Protagonisten erführe, die sich doch mit vollem körperlichen und vokalen Einsatz in die gewiss verdienstvolle, politisch relevante Angelegenheit werfen. Wenn Eva Maria Nikolaus, die Charlotte des Abends, einmal mit dem falschen Fuß auf dem Boden aufkommt, weil sie die Schräge der herabgelassenen Wippe unterschätzt hat, die Sängerin aber unverdrossen weitersingt, als sei nichts geschehen, erschrickt man einen Moment. Wie gesagt: Voller Einsatz, auch bei der Maria der Isabel Reinhard, die sich einmal in einen seltsamen Pas de deux mit ihrem kranken Offizier begibt. Auch Sotiris Charalampous singt ansprechend, aber am besten in Ausdruck und Stimmgeschmeidgkeit fand ich doch die Diktatorenfrau. Soviel Verführung (des Rezensenten) muss schließlich sein.

Aber die Sprache… Nur zu Beginn des Abends hört man genau, worum es geht: „Du bist der, der mich streichelt. Du bist der, der mir sagt, was ich kann. Der, der mich schlägt. Den ich liebe. Den ich hasse. Der schreit und flüstert. Du bist der, der mir sagt, wer ich bin!“ Der Rest ist ein Spiel zwischen Oben und Unten. Steht der Diktator zumeist oben, so gerät er nur kurz ins Schlingern, als er, nun auf der frei schwingenden Wippe, sein Leben durch einen Verführungstrick zu retten vermag. Was unten kreucht, ist dem Tod, zumindest der Blindheit anheimgegeben, denn die Attentäterin stirbt weniger an der Kugel der (aus falschen Gründen eifersüchtigen) Ehefrau als an ihrer Verführung. Am Ende aber sitzt die Diktatorenfrau an höchster Stelle: quasi auf dem Thron, den ihr die Bühnenbildnerin gebaut hat, und zu dem man nur über die Treppe in irgendein wolkenweisses/blaues Himmelreich zu gelangen vermag. „Ich habe Angst!“ - dies aber ist das letzte Wort des Werks, gesungen vom Invaliden.

In der Tat: Krenek erwies sich schon sieben Jahre vor 1933 als Prophet, wenn er auch nicht ahnen konnte, was nach der Machtergreifung Mussolinis, der zunächst gemeint war, auf die Deutschen und den Rest der Welt zukommen sollte. Um diese Botschaft zu verschärfen, hat der Dramaturg Justus Rothlaender zusammen mit dem musikalischen Bearbeiter Jörg Gollasch eine Fassung erstellt, die mit einem Klavier (Walewein Witten – der Name kommt nicht einmal bei Siegfried Wagner vor…), einem Violoncello (Maria Franz) und einem Schlagwerk (Jan-Einar Groh) auskommt. Die integrierten Teile verstehen sich, glaube ich, nicht nur als Verlängerungen und Überleitungen, sondern als Interventionen, wie das neudeutsche Wort für diese Collagetechnik lautet. Hier haben die Musiker Erstklassiges geleistet. Der eigentümlichen Tonsprache Kreneks kommen sie mit gelind modernistischen Attacken entgegen, die die Texte zu neuen Kommentaren zu einem alten Thema machen. Das Violoncello schrammelt herzhaft dissonant, das Klavier grüßt zu den 20er Jahren zurück, der Schlagzeuger beginnt den Abend mit einem regelmäßigen, gleichzeitig aber nervösen Drum. Die Figuren stehen, nur einer schaut sie an: der Diktator. Schon dies ist ein starkes Bild in einem einfachen wie sinnfälligen Raum, der schon schnell stark und körperaktiv bespielt wird, wenn auch meist der wichtige Text irgendwo hingesungen wurde, wo man ihn nicht mehr finden konnte. Die Vermutung, dass ein Bild, noch dazu verbunden mit einer impulsiven und facettenreichen Musik, mehr sage als 1000 Worte, ist leider nur ein schwacher Trost. Aber: unterm berühmten Strich entstand in der Neuköllner Oper ein starker, durchaus nicht winziger Abend.

Frank Piontek, 9.11.2018

Fotos: © Matthias Heyde

 

 

WOLFSKINDER

Uraufführung am 25.1.2018

Glückliche Verbindung

Im Jahre 2014 gab es im Kellerkino der Neuköllner Passagen Rick Ostermanns Film „Wolfskinder“ zu sehen, 2018 wird fünf Etagen höher in der Neuköllner Oper ein Musiktheaterstück gleichen Namens uraufgeführt mit dem Text von Ulrike Schwab und der Musik von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“. Der Film erzählte die Geschichte eines ostpreußischen Brüderpaars, dem die an Entkräftung sterbende Mutter den Auftrag gibt, über die Memel, die Grenze nach Litauen, zu einem Bauernpaar aufzubrechen, um dort Schutz zu suchen. Der Jüngere findet um den Preis der Aufgabe seiner Identität Unterkunft bei einem litauischen Bauern, der Ältere zieht weiter, und sein Schicksal bleibt ein ungewisses. Unterwegs erleben die beiden Brüder alle möglichen Schrecknisse des Krieges, dessen unschuldige Opfer sie sind. Erst spät hat sich Deutschland dieser Kinder entsonnen, so dass es umso verdienstvoller ist, dass nun, wenn auch in ganz anderer Form als der Film, die Neuköllner Oper ihnen ein Stück widmet.

Auf den Ankündigungen der Produktion sind noch Mädchen in einem Wald zu sehen, so dass man Ähnliches wie im Film erwarten kann. Das nach beiden Seiten hin offene Bühnenbild (Rebekka Dornhege-Reyes) zeigt hingegen drei nebeneinander liegende Behausungen: ein gutbürgerliches Wohnzimmer mit Kronleuchter und Klavier, ein bescheidener eingerichtetes Zimmer und einen Hängeboden, der als Schlafstätte dienen wird. Man reimt sich zusammen, dass die sieben Schwestern, von denen im Programmheft berichtet wird, Krieg und Flucht überlebt haben, an sicherem Ort versammelt sind und mit Hilfe der Hausmusik schlimmes Erlebtes, von denen sie in Sprechtexten berichten, zu bewältigen versuchen. Dabei ist die Oper „Hänsel und Gretel“ wohl mit besonders schönen Erinnerungen verbunden und hilft ihnen, den Verlust der Eltern, der Heimat, vielleicht auch der Identität zu verkraften.

Die Aufführung beginnt mit dem Abendsegen aus „Hänsel und Gretel“, doch die Musik Humperdincks wird jäh von Kriegslärm, dem Detonieren von Bomben, dem Jaulen der Stalinorgel unterbrochen, man sieht die sieben Mädchen zunächst nicht, die erst nach dem Abklingen des Lärms nacheinander aus ihren Verstecken kriechen. Drei von ihnen sind Sängerinnen (leider mit Miniport), vier spielen professionell ein oder mehrere Instrumente, so dass die musikalische Seite zu einem großen Teil von den sieben jungen Musikerinnen bestritten wird. Viele Teile der Märchenoper passen besonders gut in die Situation der Wolfskinder („Ach, wir armen Leut`“), anderes nur zu den Wolfskindern wie das schreckliche „Das siehst du nie wieder.“

Suchmeldungen, wie sie jahrzehntelang das Rote Kreuz von 11.45 bis 12.00 über den Rundfunk sendete, werden eingeblendet, nicht zur Oper, aber zur Situation Gehörendes („So nimm denn meine Hände“) hinzugefügt. Leider werden die Berichte der Mädchen vom schrecklichen Erlebten von den Instrumenten untermalt und bleiben damit nicht immer verständlich. Ein Koffer macht in dieser Inszenierung endlich einmal Sinn und bleibt nicht Regietheaterrequisit, ein mit Erde gefülltes Loch regt zum Nachdenken ein wie der Maibaum aus weißen Bändern, die schließlich dazu dienen, alles Mobiliar zuzudecken wie ein Leichentuch über den Erinnerungen.

Die Arrangements für Klavier, Blasinstrumente und Streicher von Tobias Schwencke und Markus Syperek (auch für die Einstudierung verantwortlich) entsprechen der Musik von Humperdinck in wundersamer Weise. Einfühlsam ist die Regie von Ulrike Schwab, zweckmäßig die Bühne von Rebekka Dornhege Reyes.

Leider macht es das Programmheft nicht leicht, die einzelnen Stimmen den jeweiligen Sängerinnen zuzuordnen. Auffallend schön und weich geführt ist der Mezzosopran von Amélie Saadia, frisch und mädchenhaft der Sopran der Sängerin, die das Taumännchen singt. Es gibt keine Ausfälle, so dass wenigstens die Namen der drei Soprane genannt werden sollen: Angela Braun, Maja Lange und Marine Madelin. Nicht nur am jeweils im Programmheft aufgeführten Instrument betätigten sich mit Erfolg Laura Esterina Pezzoli (Violine), Ildiko Ludwig (Viola) und Isabelle Klemt (Cello).

Man kann nicht nur mit dem künstlerischen Ergebnis dieses Abends zufrieden sein, sondern auch damit, dass ein Kapitel deutscher Geschichte beleuchtet wird, das bisher wenig Beachtung fand.

Fotos (c) Matthias Heyde

26.1.2018 Ingrid Wanja

 

 

 

 

RETTE UNS, OKICHI!

Europäische Erstaufführung am 18.2.2017

Besuchte Vorstellung am 21.2.2017

Spätromantischer Japaner

Selbst eines Opernlibrettos würdig ist das Leben des japanischen Komponisten Kosaku Yamada, der nicht nur nach westlicher Art seinen Vornamen vor den Familiennamen setzen ließ, sondern der für den Siegeszug der europäischen Musik in Japan mitverantwortlich ist, das erste Sinfonieorchester Japans gründete und in seinen eigenen Kompositionen Wagner, dem Verismo und der Spätromantik mehr Raum gab als japanischen Traditionen. Ein englischer Schwager ermöglichte ihm das Musikstudium, übrigens bei zwei deutschen Lehrern in Tokio, in Berlin studierte er bei Max Bruch, hatte hier auch eine deutsche Verlobte. 1913 weilte er zu Besuch in Japan und konnte dann nicht nach Deutschland zurückkehren, weil inzwischen der Erste Weltkrieg ausgebrochen war. 1918 schickte ihn der Mitsubishi-Konzern in die USA, in den Zwanzigern sollte in Chicago die Uraufführung von „Kurofune“, „Schwarze Schiffe“ (an der Neuköllner Oper „Rette uns, Okichi!“), stattfinden, doch die Aufführung kam nicht zustande. Ein Jahr vor dem Überfall auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor wurde die Oper in Tokio uraufgeführt, obwohl ihre Tendenz, die Lobpreisung der Freundschaft zwischen den beiden Staaten, nicht der allgemeinen Stimmung entsprach. Als der Komponist 1965 starb, hinterließ er 1600 Werke, darunter mehrere Opern.

Die Neuköllner Oper, immer auf der Suche nach in Berlin oder gar Deutschland noch nie gespielten Werken, wenn man nicht gerade zu Uraufführungen greift, hat die Zweieinhalbstundenoper auf 80 Minuten und damit auf die Dreiecksgeschichte zwischen der Geisha Okichi, dem Samurai Yoshida (Yamada selbst stammte aus einer Samurai-Familie, die wegen des Machtverlustes der Kaste ins Elend gestürzt wurde) und dem amerikanischen Konsul, der mit vier Schiffen angereist ist, um als erster Amerikaner japanischen Boden zu betreten und das Land für den Handel mit den USA zu gewinnen. beschränkt Okichi soll den Konsul becircen und töten, denn die Samurais sind gegen die Öffnung des Landes nach Westen. Sie verliebt sich natürlich in ihn und ist auch dem Auftraggeber des Mordes, Yoshida, zugetan. Nach langem Hin und Her beschließt der Shogun, das Regierungsoberhaupt, den Konsul und damit westliche Einflüsse ins Land zu lassen. Japan tut den ersten Schritt zu einer modernen Großmacht.

Rein musikalisch gesehen ist die Neuköllner Aufführung japanischer als die Musik der Oper an sich, denn durch den Einsatz eines urjapanischen Instruments, der Sho-Flöte, die nur von ganz wenigen Musikern noch beherrscht wird, bekommt die Aufführung im kleinen Studio des Hauses viel japanisches Flair. Naomi Sato, die auch das Schlagwerk bedient gehört zu den wenigen Musikern, von denen selbst das Orchester des Tenno nicht genug zur Verfügung hat.

Auf einem Laufsteg mit einigen Stufen und einem mastartigen Gestänge an einem Ende (Bühne und Kostüm Yassu Yabara) begrüßen die drei Mitwirkenden mit Puppen das hereinkommende Publikum, vielleicht eine japanische Tradition, wer weiß das schon. Die japanische und die amerikanische Fahne stehen einander gegenüber. Die Darsteller von Ochiki und dem Konsul tragen wie die anderen Musiker hellblonde Perücken, was, da die eine Japanerin und der andere Afroamerikaner, einen gewissen Verfremdungseffekt hat. Regisseur Tomo Sugao sorgt für einen zügigen, pausenlosen Ablauf des Geschehens, lässt den Zuschauer durch Textprojektionen auch den historischen Hintergrund verstehen. Die Lichtregie (Ben Artmann) zaubert interessante Effekte. Aki Schmitt, wie der Name verrät, deutsch-japanischer Abstammung, ist verantwortlich für das Arrangement (Die Partitur wurde von der Tochter des Komponisten zur Verfügung gestellt.) und hat sowohl die musikalische Leitung wie die Begleitung am Klavier zur Aufgabe.

Bereits in einer asiatischen Rolle an der Neuköllner Oper aufgetreten ist die Sängerin der Titelpartie, Yuri Mizobuchi mit Mascagnis „Iris“, deren Partie allerdings viel japanischer klang als die des japanischen Komponisten Yamada. Ihr recht metallischer Sopran ist in allen Lagen gleich ansprechbar, klingt aber mittlerweile in der Höhe im Forte leicht scharf. Darstellerisch ist sie einfach perfekt und verkörpert die zwischen zwei Männern und Kulturen hin- und hergerissene Geisha auf anrührende Weise. Eine Bombenhöhe hat Edwin Cotton für den Konsul, der Übergang in die Mittellage bereitet ihm Probleme, und das Singen im Duett lässt die Partnerin schnöde außer Acht. Mehr Erfahrung im Zusammenspiel merkt man Tobias Hagge an, der einen machtvollen Bariton auch zügeln und auf die Raumverhältnisse einstellen kann. Über beachtliches Material verfügen alle drei Sänger.

Bei der der Neuköllner Oper handelt es sich um die europäische Erstaufführung, über das Schicksal des Werks nach seiner Uraufführung in Japan ist leider nichts bekannt.

Fotos Matthias Heyde

21.2.2017 Ingrid Wanja   

 

 

 

AFFE

Uraufführung am 23.11.2016

Musiktheater aus Songs

Ist es eine Schande, wenn ein Opernfreund bis vor kurzem keine Ahnung hatte, wer Peter Fox ist, dass dieser 2008 ein sehr erfolgreiches Album mit dem Titel „Stadtaffe“ und 2009 mit dem Titel „Live aus Berlin“ herausgab, dass „Schwarz zu Blau“ (der Berliner Himmel während der Heimkehr aus Klubs und Kneipen) schon beinahe den Status der „Berliner Luft“ erreichte? Auch eingestehen muss so mancher Opernfreund, dass er bis heute nicht wusste, wie viele Platin-Schallplatten der Künstler allein in Deutschland hatte (12), dass man ab 27.11. die DVD mit dem Konzert aus der Berliner Wuhlheide von 2009 beziehen kann, dass Fox seit 1998 Sänger der Reggae/Dancehall Grupp Seeed ist und 2009 sowie 2010 Echos für das beste Album zugesprochen bekam. Zur Kenntnis nehmen sollte der Opernfreund auch, dass Peter Fox Sieger beim Bundesvision Song Contest 2009 wurde.

Die Neuköllner Oper hatte, nach über 170 Ur- und Erstaufführungen seit der Gründung kein Wunder, nie Berührungsängste und war stets dem Cross Over zugetan. Für John von Düffel und Fabian Gerhardt schienen sich die Songs geradezu zwanglos zu einer Geschichte zu fügen, der eines Nachtschwärmers, der nicht nur das Bewusstsein nach durchfeierter Nacht verliert, sondern auch Personalausweis und Smart-Phon und damit seine Identität. Rabiat wird er im Krankenhaus behandelt, verliert sich in Träume und Halluzinationen, in denen ihm die längst verlorenen gegangene Frau und der seit zehn Jahren tote Freund begegnen, aber auch ein Affenkönig, nachdem er selbst von der überrobusten Krankenschwester zum Affen erklärt wurde. Realität und Traum überschneiden einander, und es bleibt offen, was das eine und was das andere ist. „Ein Trip mit den Songs von Peter Fox‘ „Stadtaffe“ nennt sich die Unternehmung, die kein Musical sein will und dessen vorhersehbares happy end auch ebenso vermeidet wie die Gefälligkeit der Gattung. Das vorwiegend jugendliche Publikum reagierte voraussehbar so, als sehe es sich selbst auf der Bühne und brach am Ende in großen Jubel aus.

Die Bühne von Michael Graessner zeigt ein Krankenzimmer mit schiefen Wänden, symbolisch für die Verrückt-heit des F., mit dessen Initiale offensichtlich Peter Fox gemeint ist. Seile und kleine Podeste überspannen die Bühne und geben den Mitwirkenden reichlich Gelegenheit zu äffischem Gebaren, die sie mit geradezu akrobatischen Fähigkeiten wahrnehmen. Im Hintergrund und an den Bühnenseiten laufen Filmsequenzen von Vincent Stefan, die nie Selbstzweck, sondern stets passend zur jeweiligen Situation sind, eingeschlossen die Wirkung von reichlich genossenem Rauschgift. Bereits das Album, an dem das Filmorchester Babelsberg mitwirkte, wartete mit einer für diese Musik ungewöhnlichen Orchestrierung auf. An der Neuköllner Oper gibt es neben Keyboard und Drums ein Streichquartett, die Arrangements stammen von Fred Sauer, der auch die musikalische Leitung übernommen hat, neben den vom Schlagzeug bestimmten Teilen kommen so auch mehr ätherische Klänge zur Geltung. Fabian Gerhardt hat auch die Inszenierung übernommen und sorgt für einen pausenlosen, temperamentvollen, doppelbödigen, zwielichtigen und stets interessant bleibenden Abend von anderthalb Stunden Dauer.

Keinerlei Ausfall gibt es bei den sechs Darstellern. Wahrscheinlich kannte ein Großteil des Publikums die Texte auswendig, aber auch diejenigen, bei denen das nicht der Fall war, konnten wegen der durchweg guten Diktion Gesprochenes wie Gesungenes verstehen. Die Gesangsnummern werden durch Mikros verstärkt, so dass eine Beurteilung der Stimmen nicht ganz einfach ist. Anton Weil spielt und singt mit farbigem Bariton einen bühnenbeherrschenden F.. Mit etwas rauerer, reizvoller Stimme und ebenso hingebungsvollem Spiel ist Sohel Altan Gol der untote Freund Zaza. Ein Wunder an Wandlungsfähigkeit ist Sergej Lubic als King, Bettler und Arzt. Eine gut tragende Sprech- wie Singstimme hat Amy Benkenstein für die Lea und die Königin, Rubini Zöllner merkt man die vielseitige Bühnenerfahrung, di ihre Vita verriet, in Gesang wie tänzerischem Einsatz an, und Achan Malonda steuert dunkle Töne als Krankenschwester und Erste Lady bei. 

 

Man braucht keine prophetischen Gaben, um voraussagen zu können, dass diese Produktion ein Riesenerfolg wird. Die ersten Abende sind bereits ausverkauft, Vorstellungen sind bis in den Januar hinein vorgesehen.

Fotos Matthias Heyde

24.11.2016  Ingrid Wanja

 

 

STELLA

2. Vorstellung am 26.6.2016

Uraufführung am 23.6.2016

Schillernder Charakter

Kaum zu glauben, dass das Schicksal der jüdischen Deutschen oder deutschen Jüdin Stella nicht längst das Interesse von Roman- oder Theaterschriftstellern, von Filmregisseuren oder von Komponisten gefunden hat, dass abgesehen von ganz wenigen künstlerischen Verarbeitungen erst jetzt mit dem deutschen Singspiel “Stella“ die Figur auf eine Bühne, die der Neuköllner Oper, gefunden hat. Angesichts der Ankündigung allein mit dem Vornamen der Stella Goldschlag hatte man spontan an Goethes Frühwerk um ein Verhältnis zu Dritt, mit revidiertem Schluss den Übergang von Sturm und Drang zur Klassik markierend, gedacht, nicht aber an „Das blonde Gift vom Kurfürstendamm“, an der Neuköllner Oper „Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ genannt. Vielleicht empfand man das Thema, eine Jüdin als „Greifer“, als Handlanger der Gestapo beim Aufspüren versteckter Juden in Berlin, als zu heikel oder die Figur der Stella als zu schillernd zwischen verwerflich und verständlich, nicht vorhersehbar die Gefühle der Zuschauer in die Richtung des Mitgefühls oder des Abscheus lenkend?

Die blonde, blauäugige Schönheit, Tochter zweier Musiker, die erst mit den Nürnberger Rassengesetzen von ihrer jüdischen Herkunft erfuhr, strebte eine Karriere als Sängerin an, musste jedoch Modezeichnen studieren, ehe sie zur Arbeit zwangsverpflichtet wurde, floh, wurde gefangengesetzt und von der Gestapo gefoltert, entkam bei einem Luftangriff aus dem Gefängnis, stellte sich aber in dem Sammellager, in dem auch ihre Eltern waren. Um das Leben ihrer Eltern und ihr eigenes zu retten, verpflichtete sie sich dazu, Juden in Berlin aufzuspüren, sie sogar zu verhaften, denn ihre Erfolge waren so beachtlich (man weiß nicht, ob ihre Opfer Hunderte oder gar Tausende waren), dass sie sogar eine Pistole von der Gestapo bekam, Selbst nachdem ihre Eltern nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert worden waren, setzte sie ihre Arbeit fort. Während der Schlacht um Berlin floh sie nach Liebenwalde, bekam eine Tochter, wurde verraten, als sie die sowjetische Geheimpolizei mit der Gestapo gleichsetzte, und zunächst der Jüdischen Gemeinde übergeben, bei der sie ihren Status als Opfer erreichen wollte, die sie aber kahlscheren ließ und den Sowjets übergab. Von den Sowjets wurde sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die sie zunächst in Sachsenhausen, dann in anderen Lagern und Zuchthäusern abbüßte.

Danach verurteilte sie ein deutsches Gericht zu ebenfalls zehn Jahren und sorgte, da bereits abgesessen, damit für ihre Freilassung. Stella Goldschlag wurde Christin, stramme Antisemitin, auch durch die Heirat mit einem Nazi, dem dritten von fünf Ehemännern. Der Kontakt zu ihrer Tochter wurde ihr verwehrt. 1992 erschien das Buch von Peter Wyden, das ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde. Zwei Jahre später nahm sie sich im Alter von 72 Jahren das Leben, bis zum Schluss sich uneinsichtig als Opfer und nicht als Täterin fühlend. 2016 nun haben Peter Lund (Text) und Wolfgang Böhmer ( Musik) das Stück geschaffen, das man auch als Musical bezeichnen könnte und das Musik im Stil der Zeit, in der es spielt, mal in der Art der Comedian Harmonists, mal wie Brecht/ Weil klingend, in jedem Fall eingängig und gut singbar, bietet.

Der Besucher der Aufführung der Neuköllner Oper tut gut daran, sich die wichtigsten Lebensdaten der Stella einzuprägen, da er sonst die nicht chronologisch aufgebaute Geschichte, die sich in einer Art Container abspielt, nicht versteht. Vielleicht um deutlich zu machen, dass jede Lebensgeschichte wie eine Medaille zwei Seiten hat, steht dieser mal durchsichtige, mal wie aus Spiegeln bestehende Spielraum mitten im Publikum (Ausstattung Sarah-Katharina Karl). Hier spielen sich in loser Folge die Szenen aus dem Leben der Stella, aber auch aus dem Verhör von Adolf Eichmann (Markus Schöttl als der typische, jede Verantwortung ablehnende Schreibtischtäter) ab, wobei besonders die zwischen Stella und ihrem Vater, von David Schroeder mit eindringlichem Charaktertenor gesungen, im Gedächtnis bleiben.

Eindringlich verkörpert Jörn-Felix Alt mit farbigem Bariton u.a. den Ralf Isaaksohn, einer der Ehemänner Stellas und wie sie ein „Greifer“. Den erfolgreichen Passfälscher Samson Schönhaus, der erst 2015 verstarb, singt und spielt Samual Schürmann mit markantem Bariton. Victor Petitjean ist mit präsentem Bass der SS-Mann Walter Dobberke. Eine ganz und gar großartige Leistung vollbringt in der Titelpartie Frederike Haas, eine perfekte Musicaldarstellerin, die gleichermaßen imponierend singen, schauspielern und tanzen kann. Die Szene mit der Tochter Yvonne (Isabella Köpke) ist die einzige problematisch wirkende, da ausgerechnet hier der Charakter der Stella am negativsten erscheint, ohne dass es für sie Belege geben wird. Regisseur Martin G. Berger, von dem es einen einfühlsamen Artikel im Programmheft gibt, führt seine Darsteller mit sicherer Hand durch das Labyrinth der Schauplätze und Ereignisse. Die oberhalb des Containers befindliche Videowand wird von Roman Rehor mit erhellenden, ergänzenden und vertiefenden Bildern bedient. Den Sound der Zeit treffen sehr gut die sieben Orchestermusiker unter der Leitung von Tobias Bartholmeß, der zugleich der Klavierspieler ist.

Fotos Matthias Heyde

27.6.2016 Ingrid Wanja

 

IRIS

2. Vorstellung am 19.4.2016        

EA 14.4.2016

Lohnende Ausgrabung

Mit „Iris Butterfly“ bewirbt die Neuköllner Oper ihre Neuproduktion von Mascagnis selten gespielter Oper, nach vielen bekannteren wie „Macbeth“ oder „Carmen“ nun die Bearbeitung eines zumindest in Deutschland sehr selten gespielten Werks (szenisch wohl zuletzt 2007 in Chemnitz). Sicherlich ist der eigenartige Titel erst einmal Werbung, denn Puccinis sechs Jahre jüngere „Madama Butterfly“ war, ist und bleibt wahrscheinlich ein Kassenschlager, zudem aber verweist die Verdoppelung des Titels auf das identische Ambiente, nämlich Japan , gemeinsam ist beiden Opern das kindliche Alter der Protagonistin und das tragische Ende derselben, auch die Ansprüche, die die Musik an die Sopranistin stellt, sind vergleichbar. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber bereits auf, denn während die Geschichte der Geisha eine durchaus realistische ist, führt „Iris“ in das Reich das Symbolismus, der Dekadenz, ja des Jugendstils, sind auch die Anlehnungen der beiden Komponisten an orientalische Musik kaum miteinander zu vergleichen.

Als rein theoretische Pflichtübung mutet auch die in der Ankündigung der Premiere geäußerte Behauptung an, „Iris“ sei durchaus aktuell, denn das Aufeinanderprallen zweier Kulturen und die Sorge um die Natur, deren Unversehrtheit mittlerweile bereits verspielt sei, seien auch in Illicas Libretto zu finden. Eher dürfte man allerdings an Menschenhandel und Zwangsprostitution auch in unserer Zeit denken. Aber nach Neukölln gehört nun einmal trotz aller sich vollziehenden Gentrifizierung Sozial- und sonstige Gesellschaftskritik, auch wenn nur auf dem Papier, wo man sie selbst bei einem solchen Werk gern in Kauf nimmt. Und so ist dann im informationsreichen Programmheft auch die Rede vom „Schlachtfeld eines Krieges zwischen Tradition und Moderne, der den globalen Kapitalismus begleitet“.

Die Oper gliedert sich in drei Akte. Im ersten berichtet die junge Iris, die im Garten ihres blinden Vaters lebt, von einem Traum, in dem ein Krake eine fürchterliche Rolle spielt Durch ein Puppenspiel angezogen, folgt sie dem Bordellbesitzer Kyoto. In dessen Etablissement wird sie im zweiten Akt von dem sie begehrenden Osaka umworben, widersteht ihm und wird zum Aushängeschild des Unternehmens. Ihr Vater verflucht sie in der Meinung, sie sei freiwillig dort und sie stürzt sich verzweifelt in einen Kanal. Im dritten Akt wird die Sterbende ausgeraubt; so wie die Oper mit dem Inno al Sole begonnen hat, so endet sie auch. Dieses Stück ist übrigens das populärste der Oper und wird zuweilen in Konzerten aufgeführt.

Es ist natürlich auch das problematischste für ein Theater, das ohne Chor auskommen muss, was recht glücklich durch die Einspielung der entsprechenden Szene bewältigt wird. Bernhard Glocksinn und Fabian Gerhardt sind für die Neufassung in deutscher Sprache verantwortlich, Letzterer auch als Regisseur für die leichte Abwandlung des Schlusses, der nun nicht mehr die Sonne, sondern die leuchtende Herzen an die sterbende Iris verteilenden Mitwirkenden als Heilsbringer sehen will- der Vater sogar mit einem zärtlichen Kuss auf die Stirn.

Genial ist die Einheitsbühne von VON JUNE Rebecca Dornhege und Nina Thielen in japanischem Stil mit einer runden Vertiefung in der Mitte, in die man versinken oder emporsteigen kann, mit Seitenteilen, auf denen wie auf der Rückwand Videoprojektionen (Vincent Stefan) ihren Platz finden, übrigens nie als Selbstzweck, sondern geschickt in die Handlung eingebunden. Die phantasievollen Kostüme, die gleichzeitig an Kabuki, Manga und Schulmädchensex denken lassen, stammen vom selben Team.

Arrangiert für sieben Instrumente haben die Partitur Alexandra Barkovskaya und Derik Listermann und dabei die orientalischen Effekte leicht verstärkt. Hans-Peter Kirchberg gelingt es trotz der Reduzierung der Instrumente, „echten“ Mascagni-Klang mit seinem Orchester zu erzeugen.

Ein Glücksfall ist auch die Sängerin der Titelpartie, SuJin Bae, in deren Repertoire sich auch die Königin der Nacht und die Violetta befinden. Ihr bereits recht metallisch klingender Sopran bewältigt die Partie auch darstellerisch erfreulich gut, nur in der Schlussszene wünschte man sich noch sottilere Töne. Einen markanten Väter-Bass konnte Elias Han für den in dieser Inszenierung in ein milderes Licht getauchten Blinden einsetzen. Ebenfalls sonor und dabei angenehm geschmeidig klang der Bariton von Till Bleckwedel, der in abenteuerlicher Gewandung den bösen Bordellbeseitzer Kyoto sang. Sogar Domingo hatte seine Probleme mit der schwierigen Partie des Osaka, insbesondere mit der Serenade. Gustavo Eda hat beachtliches Material, das aber noch recht ungefüge und mit besonderer Vorsicht in der Höhe eingesetzt wird. Da er zur Zeit noch studiert, kann sich das noch zum Positiven wenden. Mit angenehmen lyrischen Stimmen gefielen Seri Baek und Yuri Mizobuchi in den kleineren Rollen.

Der Abend machte sicherlich manchem Zuschauer Lust auf eine Bekanntschaft auch mit dem Original, hatte seinen Wert aber durchaus auch in sich selbst und ist einen Besuch wert.

Fotos Matthias Heyde 

20.4.2016 Ingrid Wanja

Auf YouTube gibt es u.a. eine Gesamtaufnahme mit Dessì und Cura, außerdem existieren CDs mit Magda Olivero und mit Tokody-Domingo. 

 

 

GOLEM

Deutsche Erstaufführung am 11.6.2015

Lohnende Entdeckung in Neukölln

Kurz nach acht Uhr wusste man nicht so recht, ob die Oper „Golem“ von Nicolae Bretan bereits begonnen hatte, denn zu hören war noch nichts, obwohl die dreifachen Videofilme bereits liefen, die Darsteller sich auf der Bühne zu schaffen machten. Kurz vor neun Uhr war man im Zweifel darüber, ob das Werk schon zu Ende war, denn das Licht blieb ausgeschaltet, bis schließlich die Mitwirkenden sich verbeugend auf einer der Videowände erschienen, auch noch, nachdem der Beifall bereits verebbt war.

Der 1924 mit großem Erfolg zum ersten Mal in Cluj aufgeführte Einakter „Golem“, den es in Deutschland nun mit dem Pionierwerk der Neuköllner Oper zu erleben gibt, ist nur auf einer Einspielung von Nimbus mit dem Philharmonischen Orchester von Moldawien zu haben, wurde in deutschsprachigen Landen nur in St. Gallen einmal aufgeführt. Nun gestattete die über neunzigjährige Tochter des Komponisten, die auch bei der Premiere am 11.6. anwesend war, die Umformung der Partitur in eine für Kammerorchester aus Trompete, Oboe, Klarinette, Bassklarinette, Violine, Cello und Kontrabass sowie Klavier, von dem aus Tobias Schwenke, der auch für die Arrangements verantwortlich war, die Aufführung leitete. Die Reduzierung auf wenige Instrumente kommt weniger der spätromantischen Seite der Partitur zugute, als dass sie die jiddischen, zigeuner- oder operettenhaften Züge betonte, das Stück von der Großen Oper zugunsten kabarettistischer Elemente etwas entfernte. Damit werden auch die vielfältigen Einflüsse, denen der Komponist, der in Rumänien, Ungarn und Österreich lebte, ausgesetzt war, besonders deutlich.

Das Libretto schildert nicht die Erschaffung des Golem durch den Rabbi Löw , sondern beginnt, wenn die Probleme, die mit seiner Existenz verbunden sind, sich bemerkbar machen. Das Wesen aus Lehm hat Gefühle, ausgerechnet für die Tochter seines Schöpfers, würde dieser aber mit der Verwirklichung seiner Träume den Tod bereiten. So bleibt dem Rabbi nichts anderes übrig, als das Kunstwesen, dessen Vermögen er falsch eingeschätzt hat, wieder zu zerstören, was die Tochter Anna in Verzweiflung stürzt. Parallelen zur heutigen Zeit mit ihrem Bestreben, dem Menschen dienstbare und ihn ersetzende Roboter aller Art zu schaffen, die eines Tages aus Bediensteten zu Herren werden könnten, liegen auf der Hand und machen auch den Inhalt, ganz abgesehen von der Musik, interessant.

Pia Dederichs hat auf die Bühne puppenstubenartige zwei Zimmer gestellt, dazu im Hintergrund das keusche Schlafgemacht von Anna. In einem Verlies mit in den Boden eingelassenem Wasserbecken haust der Golem, des Schreibens mächtig, denn unzählige Schriftzüge des geliebten Namens Anna schmücken die ansonsten kahlen Wände. Kleinbürgerlich haust daneben komfortabler der Gelehrte Löw mit Tochter und Famulus. Die Kostüme könnten in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg getragen worden sein, zumindest das weiße Gewand Annas. Während in der unteren Etage sich die Handlung abspielt, wird diese oben, mal synchron, mal nicht, mal dreifach, mal aufgeteilt auf einzelne Schauplätze als Videos (Steffen Kraska), ebenfalls wiedergegeben. Dabei soll offensichtlich der Anschein erweckt werden, sie entstünden erst im gleichen Augenblick durch das Wirken von Mara Vlachaki, die mit der Kamera über die Bühne eilt.

Der Regie von Paul-Georg Dittrich gelingt es, etwas von der unheimlichen Atmosphäre, aus der heraus die Figur des Golem im Mittelalter entstanden ist, mit dessen verzweifeltem Bemühen, ein Mensch auch um den Preis der Sterblichkeit zu werden, zu verknüpfen. Allen Figuren, am wenigsten noch dem Golem, wohnt etwas Bizarres, Groteskes inne, das sie zu Geschöpfen des Expressionismus macht, der sich der Figur mehrfach annahm, so mit dem Paul-Wegener-Film. Sogar die engelsgleiche Anna ist von allerlei Tics befallen, schlitzt sich die Arme auf und scheint unsicher in ihrer Hinwendung zum Golem. Ulrike Schwab singt sie mit herbem, rollengerecht auch zeitweise scharf werdendem Sopran. Der Diener Baruch hat nicht nur lobenswerte Absichten gegenüber seinem Herrn und dessen Tochter und beschränkt sich durchaus nicht aufs Falten von Papierfliegernr. Lars Feistkorn darf ihm nur wenige, aber besonders kraftvolle Basstöne entlocken. An seine heldentenorale Vergangenheit erinnert James Clark, wenn er durchaus noch trompetengleich den Raum füllen kann, aber auch hin und wieder in Sprechgesang verfällt. Die beste vokale Leistung kommt sicherlich von dem Bariton Martin Gehrke, der eine farbige, substanzreiche Stimme einsetzen kann, die er ruhig auch ab und zu etwas zurücknehmen könnte für die schönen Sehnsuchtstöne, die der Komponist für ihn geschrieben hat.

In den letzten Jahren hat es viele Entdeckungen von Opern aus Deutschland vertriebener oder in Deutschland zum Verstummen gebrachter Komponisten und ihrer Musik gegeben. Mit dem Bretans wird man mit einem ganz anderen und doch vergleichbaren Schicksal bekannt gemacht. Der Komponist, der sich nicht nur Nicolae nannte, sondern auch zeitweise die deutsche oder ungarische Form seines Namens benutzte, gelangte trotz beachtlicher Erfolge als Komponist, Bariton oder Operndirektor nie zu einer auskömmlichen Existenz, musste seine Werke, zu denen neben Opern auch zahlreiche ungarische und deutsche Lieder gehören, auf Klavieren von Freunden komponieren.

Nicht ein Opfer der Naziherrschaft wurde er, sondern eines der Kommunisten, die ihn seines Amtes enthoben, weil er nicht in die Partei eintreten wollte. Seine Werke wurden nicht aufgeführt, abgesehen von seinem Requiem 1955, in dem er selbst auch als Sänger auftrat. 1968 ist er gestorben. Er hat es verdient, dass man sich auf seine Kompositionen besinnt, und die Neuköllner Oper hat sich ein besonderes Verdienst damit erworben, mit dem „Golem“ auf sie aufmerksam zu machen.

Fotos Matthias Thiel

11.6.2015  Ingrid Wanja     

 

OPERNFREUND-CD-TIPP

BUCHTIPP

 

 

 

LWOWSKI, MEYER, YABARA, MACBETH.

4. Vorstellung am 4.3.2015                   

UA am 26.2.2015

Überfrachtet

„Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen“, dachte sich wohl das Team, das die Verantwortung für die Neuproduktion im Studio der Neuköllner Oper trägt und „Macbeth. Nach Verdi“ im kleinen Rund zwischen den Mini-Tribünen zur Aufführung brachte. Julia Lwowski, Marion Meyer und Yassu Yabara konnten sich weder für eine verkürzte Fassung, noch eine Parodie, noch eine Aktualisierung, noch eine Art Kindergeburtstag mit Einbeziehung der Zuschauer ins Geschehen, noch eine Beleuchtung des Stoffs unter philosophischen, soziologischen, völkerkundlichen, religionskritischen oder sexualwissenschaftlichen Aspekten entscheiden, und so ist bei ihrem Unternehmen ein ziemlich unförmiger Wechselbalg heraus gekommen, und Aufführung will einfach nicht enden, obwohl es weder Macduff noch Banquo, weder Finali noch, abgesehen von „Patria oppressa“, Chöre gibt.

Das Unternehmen kommt mit zwei Sängern aus, Lady und Macbeth, wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist, die Lady hat noch eine Art zweites Ich (Franziska Kronfoth), das die besonders unappetitlichen Sachen wie Onanieren mit einer abgebrochenen Kinderhand besorgt, sich leider auch in den Gesang einmischt und ohne Stimme, aber mit Mikrofon Teile der Wahnsinnsarie übernimmt, während die „echte“ Lady mit Spüli oder einem anderen handelsüblichen Reinigungsmittel ihrem sich nicht auf die Hände beschränkenden Putzwahn hingibt. Gezeugt und geboren wird am laufenden Band, obwohl gerade dieses Thema bei Macbethens ein eher verdrängtes ist.

Es fängt eigentlich ganz annehmbar an mit um einen Tisch (mit dem wird später eine Schwangere erschlagen) versammelten Wesen, die die Hexen darstellen sollen, allerding mit Hauben und von vorn wie Nonen gekleidet sind, während ihre Kittel nach Art der in Krankenhäusern benutzten hinten den Blick auf die Unterwäsche (weiß, im Verlauf der Handlung mit immer mehr roten Flecken) freilässt (Christina Kämper). Grauslich gut ist auch der Einfall, eine dieser Hexen die Nachricht Macbeth‘ an die Lady dieser vor die Füße spucken zu lassen oder mit einem rituellen Tanz mit Riesenschwert den zweiten Teil einleiten zu lassen. Auch das Einschläfern des Macbeth durch die von den Hexen herbei gerufenen Geister kann überzeugen. Dazwischen gibt es aber immer wieder und immer zu lange Passagen wie das Telefongespräch einer Ukrainerin mit der bejahrten Verwandtschaft in der Heimat, das dem „Patria oppressa“ vorangeht. Das mag eine Herzensangelegenheit einer der Verantwortlichen gewesen sein, aber solche sollte man nicht einem Publikum aufzwingen. Auch „Bruder Jakob“ oder das Filmen einzelner Situationen (ein alter Regiehut) stören eher als dass sie erhellen. Man hat immer wieder den Eindruck, das Stück solle mit Gewalt in eine Länge gezerrt werden, die es ursprünglich hat, obwohl nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Originalmusik erklingt.

Dabei erzielt man mit geringen Mitteln, einer Orgel (Roman Lemberg), einem Klavier ( vorzüglich Nadezda Tseluykina), ab und zu eine Trommel und auch einmal einem Schifferklavier oft faszinierende, gespenstisch anmutende Wirkungen. Eine beachtenswerte Sängerin hat man auch für die Lady mit Yuka Yanagihara gefunden, die einen dunkel grundierten, bereits recht dramatischen Sopran interessanten Timbres einsetzen kann, der nur in der Höhe nicht immer ganz frei klingt. Sie singt alle drei großen Arien und das Brindisi, was allein schon großen Respekt verdient. Weniger ambitioniert verhält sich der Sänger des Macbeth, Rainer Scheerer, und seine Arie, wie die anderen italienisch begonnen und in deutscher Übersetzung fortgeführt, litt unter einer zu dunklen, rauhen Stimme und Intonationsproblemen. 

Mit wieviel Sympathie man auch die Arbeit der Neuköllner Oper verfolgen mag, diese Produktion gehört sicherlich zu den am wenigsten geglückten. 

5.3.2015 Ingrid Wanja                                       

Fotos Matthias Heyde

 

 

Bierbaum/Safaian     

EXIT PARADISE 

4. Vorstellung am 16.9.2014                                        UA 5.9.2014

Verschlossenes Paradies

Eine Uraufführung ist an den drei großen Berliner Opernhäusern immer ein besonderes Ereignis, für die vierte Oper Berlins, die Neuköllner, ist es der normale Alltag, gab es doch in diesem jahr bereits sieben davon, die letzte am 5.9. im Studio. des Theaters im vierten Stock der Passage in der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Bei "Exit Paradise" handelt es sich um ein work in progress, denn zunächst gab es nur einen nächtlichen Streifzug von sechs Autoren durch Neukölln und als dessen Ertrag ebenso viele Texte über die dabei gewonnenen Eindrücke. Diese wurden in einem zweiten Schritt um Musik und Songs erweitert. Als Drittes ensteht daraus ein Theaterabend, aus sechs Einzelszenen bestehend. Einige Monate später ist aus diesen der Abend "Neuköllateralschaden" geworden und erlebt seine Uraufführung. Textdichterin Uta Bierbaum und Komponist Arash Safaian schaffen daraus ein "Singspiel" für drei Sänger und mit einer fortlaufenden Handlung.

Die Geschichte spielt zwar in Neukölln, in der Karl-Marx-Straße, einst eine bürgerliche Einkaufsstraße mit vielen Familienbetrieben, die in den letzten Jahren allesamt verschwunden sind und Ramschläden, Spielhallen, Handy-Geschäften und Dönerbuden Platz gemacht haben, aber sie könnte in jeder anderen Stadt und Straße mit ähnlicher Entwicklung stattgefunden haben. Bolle (auch ein in Berlin einst bekannter Name für eine Geschäftskette, die aus dem Bolle-Bimmel-Wagen, der die Milch vor die Haustür der Kunden brachte und eins der ersten Opfer der Globalisierung wurde, hervorging) träumt von seinem Motorrad und seiner Freundin Uschi. Die Hauptfeinde des Arbeitslosen sind der TÜV und die Kontrolleure der Berliner Verkehrsbetriebe. Uschi träumt von Amerika, vom Reisen und von einer weißen Porzellanfigur, einen Schäferhund darstellend, aus dem Schnäppchenladen. Die liegt am Schluss nach einem Unfall zerschmettert auf der Straße, Uschi stirbt dabei, nachdem sie bereits eine Abtreibung durchgemacht hat, und selbst der Hund schafft es nicht lebend bis zur Autobahn. Es gibt noch eine dritte Figur, Lana, ein in Gold und Blütenjacke gekleidetes Wesen, vielleicht ein Traumbild von Uschi, vielleicht auch eine reale Person.

Die Musik erinnerte ebenso an Barock- wie Rock-Musik; Klavier (Markus Zugehör, der auch die musikalische Leitung hat) und Cello (Natasha Jaffe) führen den Orchesterpart aus, dazu kommen elektronische Elemente (Sandra M. Heinzelmann). Ena Pongrac hat für die Lana einen geschmeidigen, erotisch klingenden Mezzosopran. Klar und herb ist der Sopran für die dem Paradies nachstrebende Uschi von Ulrike Schwab. Martin Gerke singt mit virilem Bariton  den Bolle. Das unglückselige Pärchen hat in den beiden Letzteren auch vorzügliche Darsteller gefunden.  

In dem kleinen Raum für die Studiobühne der Neuköllner Oper hat Pia Dederichs zwischen zwei Zuschauerblöcke eine Art Karussell gestellt, das sich drehen, auf das man klettern und das man mit Vorhängen verhüllen kann. Das ist ein vorzüglicher Einfall, um auf kleinstem Raum viel Action stattfinden zu lassen und Abwechslung in der Optik zu garantieren. Paul-Georg Dittrich hielt die jungen Sänger zu sensiblem, einfühlsamem Spiel an, so dass sie dem Zuschauer einen Eindruck von der trost- und ereignislosen Lage junger Leute in diesem Bezirk, in dessen nördlichem Teil fast jeder Zweite Hartz-IV-Empfänger ist, vermitteln und Sympathie wecken können.

17.9.2014 Ingrid Wanja                         Fotos Neuköllner Oper 

 

 

 

Thomas Zaufke

SCHWESTERN IM GEISTE

Eine musikalische Zeitreise  -  Produktion der Universität der Künste Berlin

UA am 13.3.2014

Damals wie heute

Bereits die 158. Uraufführung und gewiss eine der besonders guten ist die von Thomas Zaufkes (Musik) und Peter Lunds (Libretto) „Schwestern im Geiste“ mit dem Untertitel „Eine musikalische Zeitreise“ in der Neuköllner Oper. Schwestern sind einmal die berühmten Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts Charlotte, Emily und Anne Brontë und andererseits aus unserer Zeit die Lehrerin Lotte mit ihren Schülerinnen Milly und Aydin. Beide Gruppen leiden unter Zwängen, die Schwestern unter dem Verdikt, in der Heirat und nicht etwa in einer beruflichen Tätigkeit, schon gar nicht als Autorin ihr Glück zu suchen; die Türkin unter dem Beschluss der Familie, sie wenige Wochen vor dem Abitur mit einem Cousin zu verheiraten und in die Türkei zu schicken; die Lehrerin unter dem Zwang, die lesbische Liebe zu einer Schülerin zu verleugnen, die sich ihrerseits keinerlei Zwang auferlegt, sogar die Lehrerin erpresst und von ihr die Auslieferung des Abiturthemas fordert. 

Keine der Brontë-Schwestern wurde auch nur 35 Jahre alt, vor Vater und Bruder mussten sie ihre schriftstellerische Arbeit verbergen, der Roman „Jane Eyre“ war Skandal und Riesenerfolg zugleich. Im Verlauf des Stücks siechen der Bruder Branwell sowie Emily und Anne dahin, Charlotte schickt sich in die Ehe mit dem als bigotte Karikatur angelegten Arthur. Aylin macht schließlich doch das Abitur, während Milly darauf verzichtet. Zum Personal gehört auch das Dienstmädchen Tabby, das an die Intrigantin Despina erinnert und die sexuellen Nöte des Reverend  Arthur für sich zu nutzen weiß.  

Sind zu Beginn die Spielebenen streng voneinander getrennt, links auf größerer Fläche das Zimmer der Schwestern, rechts das Klassenzimmer, verlaufen auch die Handlungsstränge parallel, ohne sich zu kontaktieren, so gibt es zunehmend ein Einandertangieren der beiden Ebenen, bis schließlich nicht nur in dem eingängigsten, sehr originell schmissigen  Stück „Skandal, Skandal“ alle ein Ensemble bilden, sondern es später auch Berührungspunkte gibt, wenn die tote Anne der zögernden Aylin Mut zuspricht, ihren Willen durchzusetzen. Zwar wirken die beiden jetztzeitigen Mädchen samt Gutmenschenlehrerin etwas klischeehaft angelegt im Vergleich zu den Brontë-Schwestern, das relativiert sich aber im Zusammenspiel mit den letzteren. Die schlichte, mit Worten aus den Werken der Schwester beschriebene Bühne stammt von Ulrike Reinhard, deren Idee, mit einer Videowand einen Ort der Sehnsucht, aber auch des Jenseits zu schaffen, dem Ablauf des Geschehens sehr dienlich ist. Die typisierenden Kostüme hat Anna Hostert kreiert. Eine Band, bestehend aus drei Streichern, drei Bläsern und Klavier, von welchem aus Hans-Peter Kirchberg auch die musikalische Leitung ausübt, begleitet und bringt die Musik, deren Instrumentierung fein auf Situationen und Personen ein- und so über den gängigen Musicalsound hinausgeht, zur Geltung. Zuständig für die Choreographie ist Neva Howard. 

Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit der Hochschule der Künste, Abteilung Musical, und die jungen Sänger leisten Erstaunliches, lassen, was besonders schwierig sein dürfte, auch die Figuren der drei Schwestern überaus glaubwürdig erscheinen, was sicherlich auch ein Verdienst der Regie von Peter Lund ist. Einen starken Eindruck hinterlässt Rubini Zöllner als Milly durch intensives Spiel und viel Power in den Gesangsdarbietungen. Zu schönen Modulationen des Tons fähig ist Teresa Scherhag als Lotte, und sie weiß auch das Hin- und Hergerissensein zwischen Pflicht und Neigung eindrucksvoll zu vermitteln. Jaqueline Reinhold ist ebenso überzeugend die Türkin Aydin. Eher als Karikatur angelegt ist der Arthur von Denis Edelmann, der seiner Figur angenehme Baritontöne zukommen lässt. Einen durchdringenden Charaktertenor und ein überaus gewandtes Spiel steuert Andres Esteban als Branwell bei. Am bewundernswertesten allerdings sind die Darstellerinnen der drei Schwestern, denen es gelingt, den Zuschauer in eine andere Zeit mit anderen Charakteren und deren Problemen zu versetzen, und das, obwohl sie durchweg typische Musicalstimmen (übrigens durchweg verstärkt) einsetzen, wie es das Stück vorgibt. Keren Trüger (Charlotte), Dalma Viczina (Emily), Katharina Abt (Anne) sind durchweg Mädchen wie aus einer vergangenen Zeit und doch ganz individuell angelegt, was Charakter und dazu gehörenden Stimmtyp anbelangt. Als Kontrast zu ihrem Befangensein in ihrer Zeit spielt und singt Sabrina Reischl den kessen Dienstbolzen mit lustiger, erfrischender Hemmungslosigkeit.

Ein Besuch der Aufführung, noch in März wie April möglich, ist dringend zu empfehlen, ganz besonders auch für Schulklassen, die allerdings nicht, wie das Stück vortäuscht, jemals mit den Brontë-Schwestern im Deutschunterricht in Berührung kommen werden.

14.3.2014   Ingrid Wanja                                        Fotos Matthias Heyde

 

 

DER OPERNFREUND  | opera@e.mail.de