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www.Ruhrtriennale.de

 

PROMETHEUS

Vorstellung am 27.09.2012

Mut zur Kunst

Leicht hat es Heiner Goebbels den Opernliebhabern in der Ruhrtriennale nicht gemacht; in seiner ersten Spielzeit konfrontiert er sie mit John Cages genialen "Europeras", zwar in einer opulenten Aufführung, wie Carl Orffs sperrigem Spätwerk "Prometheus", um das selbst John Dews Darnstädter Engagement für diesen Komponisten bislang einen Bogen gemacht hat. Denn nach seinen ersten beiden Griechen-Tragödien, "Antigonae" und "Oedipus der Tyrann", beide in der deutschen Hölderlin-Übersetzung vertont, entschied sich Orff beim "Prometheus" für das altgriechische Original des Aischilos. Für den normalen Theaterbetrieb kommt ein riesiges, doch auch sehr spezielles Orchestrarium erschwerend hinzu, so ist dieses herbe Werk in seiner einzigartigen Dimension wie gemacht für ein Festival wie die Ruhrtriennale, mit der riesigen Gebläsehalle in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord als Spielort.

Das Spiel um den von Kratos und Hephaistos an den Fels gefesselten Titanen Prometheus, ist zudem recht "handlungsarm", in Dialogen mit dem Chor der Okeaniden, ihrem Vater Okeanos, sowie der dramatischen Szene mit der geplagten Io (Zeusgeliebte von Hera in eine Kuh verwandelt und durch eine Bremse fast in den Wahnsinn getrieben), der kurzen Szene mit Hermes und seinem Sturz in den Tartaros, haben wir es mit einer recht introspektiven Handlung zu tun. Der samoanische Inszenierungskünstler Lemi Ponfasio entfacht ein strenges Spiel über die gesamte Länge der Halle, ähnlich Rob Wilsons Arbeiten finden wenige , ausgewählte Aktionen in getragenem Rhythmus statt, eine spiegelnde Fläche, die mit Wasser unterspült wird, wenige szenische Zusätze, doch eine fast magische Beleuchtung (Helen Todd), entfachen einen enormen Sog für die zwei Stunden zwanzig Minuten währende Aktion, die ohne Pause, ohne Übertitel kompromisslos durchgespielt wird, was die Konzentration jedoch auf die eigentlichen Dinge führt.

Seitlich auf einer Empore ist das riesige Orchester gestellt , das die Orffschen Klänge, mal eruptiv in schlagwerkbestimmten Klanggewittern, mal in flirrenden Klangfarben oder rezitativischen Emblemen die Rezitation begleitet. Peter Rundel leitet aufmerksam und bestimmt durch die herben Orchesterfarben und wahrt stets den Kontakt zu den Akteuren. Gleich einem Monolithen sitzt Wolfgang Newerla in der Titelpartie am Bühnenanfang, seine Partie von fast einer Stunde Eigendauer spricht, singt und, ja man weiß eigentlich gar nicht die Nuancen zu benennen, die diese Partie fordert, er ungeheuer konzentriert in eben Altgriechisch, einer Sprache, die heute kaum noch jemand kann, geschweige denn spricht, was für eine Leistung ! Mit wildem Schrei stürzt Brigitte Pinter als Io auf die Bühne und absolviert die "musikalischste" Rolle mit einer Unmenge an Farbspektren, lyrischer Wohllaut wechselt mit dramatischem Furor in anspuchsvollen Intervallsprüngen bis zum Schrei als Ausdrucksmittel - Wahnsinn !  Dale Duesing bestreitet ebenso gekonnt und artifiziell den Dialog Prometheus-Okeanos. Thomas Möwes (Kratos), Eric Houzelot (Hephaistos), Kasina Campbell (Bia), die wie die Darstellungsdoubles Ponifasios MAU Company angehört, und vor allem der äußerst präsente und beeindruckende David Bennent als Hermes agieren auf den gleichen Niveau. Besonders beeindruckend jedoch der seraphisch klingende Frauenchor des ChorWerks Ruhr, auch hier unmittelbare szenische Präsenz verbunden mit exakt ausschwingendem Chorgesang; Olga Vilenskaia, Hasti Molavian und Johanna Krödel singen in ihren jeweiligen Stimmlagen sirenengleich die, gar nicht geringen, Solopartien der Chorifeen.

Ein mutiger Auftakt im ersten Jahr von Heiner Goebbels Ruhrtriennale, ein Abend, den man nicht missen möchte, in seiner preziösen Elementarität.

Martin Freitag

 

 

EUROPERA 1 & 2

20.8.2012

John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden und gilt als einer der wichtigsten Anreger der zeitgenössischen Kunst: Malerei, Musik, Performance hat er beeinflusst, neue Richtungen wie die Fluxus-Bewegung wären ohne ihn nicht denkbar gewesen. Als Theoretiker ist er für ein modernes Musiktheater wohl ebenso bedeutsam geworden wie für die Sprechbühne Antonin Artaud und sein „Theater der Grausamkeit“. Für beide spielt die Einheit des Kunstwerks, die Nachahmung der Wirklichkeit, die Geschlossenheit eines als sinnvoll oder zielgerichtet erlebbaren Zusammenhangs keine Rolle.

Im Gegenteil: John Cage will jede Absicht aus seinen Werken verbannt wissen. Der Zufall soll herrschen. Und die Autonomie des Einzelnen steht über jedem Zusammenhang. Zur Eröffnung der Ruhrtriennale hat deren neuer Intendant Heiner Goebbels mit „Europeras 1 & 2“ nicht nur dem amerikanischen Multitalent eine Hommage bereitet, sondern wohl auch ein prinzipielles Statement zum Theater gegeben. Ein erweiterter Begriff vom Theater, die Negation traditioneller Formen, unmittelbares Erfahren statt Mitteilen und Verstehen: Ein Kunstbegriff, der in den bildenden Künsten seit einem guten Jahrhundert dominiert, war mit der Frankfurter Uraufführung der beiden ersten „Europeras“-Werke 1987 endgültig im Musiktheater angekommen.

Cages Prinzip: Alles ist getrennt, nichts gehört zusammen. Musik, Bühne, Licht, Bewegung, Kostüm: Die Bestandteile der klassischen Oper werden zerlegt und wieder montiert. Die Abläufe sind nach dem chinesischen „I Ging“ zusammengestellt. Dabei spielt der Zufall die bestimmende Rolle – und die Zeit: Die Zahlenreihen beleuchteter Stoppuhren rasen in „Europeras 1“ unaufhaltsam dem Ende zu: Eine Stunde, dreißig Minuten exakt, dann verklingt der letzte einsame Gesang.

Man könnte den Vorgang, der in diesem Zeitraum abläuft, objektivierte Anarchie nennen. Denn die Grundlagen, die Cage entwickelt und Goebbels in seiner szenischen Realisierung aufgegriffen hat, sind – der chinesischen Orakel-Methode entsprechend – mathematisch höchst präzis. Das Anarchische bedeutet nicht Chaos, sondern den völligen Verzicht auf Über-, Unter- oder Zuordnung. In 64 Zeitfenstern spielen rund 30 Musiker Fragmente aus Opernpartituren. Das kann ein einzelner Ton sein oder ein komplexes Melodie-Bruchstück. Wann das Stück innerhalb des gegebenen Zeitrahmens erklingt, bleibt dem jeweiligen Spieler überlassen.

An 64 festgelegten Positionen auf der Spielfläche singen die zehn Solisten Arien oder Fragmente aus 64 Opern, von ihnen selbst ausgewählt aus dem rechtefreien Repertoire, von Purcell und Gluck bis Wagner und Debussy. In Bochum, im riesigen Raum der Jahrhunderthalle, waren die 64 Felder über die gesamte Tiefe des bespielbaren Raums von rund 90 Metern Länge verteilt. Bühnenbildner Klaus Grünberg plünderte die Operngeschichte für 32 Bühnenbilder; Florence von Gerkan entwickelte aus historischen Vorlagen 32 Kostüme, von der Rüstung bis zum Reifrock.

 So rauschen sie vorbei, nach einem exakten Zeitplan und dennoch systemlos, simultan und ohne Beziehung zueinander: Venezianischer Barock und deutsches Biedermeier, Römer aus der Opera seria und bürgerliche Herren, gemalte Drachen und Seeungeheuer, romantische Heroinen und affektierte Hofgecken. Was sie singen, passt nicht zum Kostüm; wie sie sich bewegen, passt nicht zum Affekt ihrer Arien. Auf der Bühne öffnen sich Höllenschlünde aus dem barocken Wiener Theater und romantisch Weber’sches Waldweben, brennen Tempel und schwingen kristallene Lüster, strahlen Pappmaché-Sonnen und fingern einsame Scheinwerfer durch die Dunkelheit. Denn auch das Licht verweigert den Dienst, sucht sich autonom und ohne Zusammenhang mit der Szenerie seinen Weg.

Die Sänger, reduziert auf sich selbst, kämpfen sich mit Hilfe der Stimmgabel durch ihre Arien – hier beschwört Nikolay Borchev Lortzings „Heiterkeit und Fröhlichkeit“, dort fragt Frode Olsen mit dem Eremiten aus dem „Freischütz“, ob ein Fehltritt solcher Büßung wert sei. Gesungen wird entsprechend mühevoll, mit heiserem Timbre und unsicherer Intonation. Kein Wunder, fehlt doch jede Stütze durch ein Instrument – im Gegenteil, die Sänger haben sich gegen die vor sich hin streichenden, blasenden oder schlagenden Solisten des Festivalorchesters zu behaupten. Die Helden dieser Aufführung sind die „Assistenten“: Die jungen Leute haben nach einem präzisen Zeitplan die Requisiten kreuz und quer durch die Halle zu transportieren, schleppen Bühnenteile, bringen Hänger zum richtigen Ort. Zu schauen gibt es viel.

Ein Spaß also, eine überbordende Luxus-Fantasie eines Mannes, dessen Antwort auf die Last der Tradition, auf die Enge des Konventionellen, auf jedes nach Bedeutung riechendes Konzept stets Gelächter war? Sicher nicht. Auch wenn Kritiker in „Europeras“ ein großironisches Werk erkennen wollen: Der radikale Verzicht auf Sinn, die ebenso radikal durchgezogene Vereinzelung der Theater-Elemente, die Herrschaft der Herrschaftsfreiheit sind so humorlos wie konsequent. Hier wird nicht persifliert, hier transzendiert keine leichte Hand Pathos in Parodie. Cage ist kein Offenbach der 68er.

Die Kunst, die hier beabsichtigt ist, schafft keine Komödien. Auch wenn das Schmunzeln in vielen Szenen nicht weit ist: Gelacht wird kaum in der tiefen, dunklen Jahrhunderthalle. Und das lag nicht an den tropischen Temperaturen, die – das wird man zugestehen müssen – dem begeisterungsarmen Beifall noch zusätzlich einen matten Touch gegeben haben. Das liegt wohl eher am Todesernst, mit dem hier die Individualisierung, die Vergötterung des Selbst, die Negation des Sinns vorangetrieben werden. Welche Geschichte in der vermixten europäischen Operntradition zu lesen ist, bleibt alleine dem Zuschauer überlassen. Die bildende Kunst lässt grüßen. Und das Theater, das sich mit der Weigerung, Geschichten zu erzählen, in ein ästhetisch so brisantes wie philosophisch verstiegenes Abseits manövriert hat. Das selbstbestimmte Subjekt triumphiert.

„Europeras“ lässt den Rezipienten mit seinem unauslöschlichen Trieb, Sinn und Zusammenhang zu erschauen, gnadenlos alleine. Es sind „your operas“, wie man den Begriff „Europeras“ auch lesen könnte: eure Opern. Nicht nur jene, die aus Europa 200 Jahre in die Welt geschickt wurden und die Cage, wie er sagte, alle auf einmal zurückgeschickt hat. Sondern eben auch die Oper jedes Einzelnen, der auf einem Platz in der heißen Jahrhunderthalle in der Falle sitzt, für sich selbst zu entscheiden, was er mit diesen Elementen sinnlicher Einwirkungen denn nun anfangen soll. Mit der bildenden Kunst tut er sich bei solchen Operationen nicht so schwer. Für ein Bild ist der Ablauf der Zeit nicht relevant; selbst vergängliche Installationen zerfallen in Zeiträumen, die normalerweise eine intensive Betrachtung erlauben. Für das Musiktheater gilt das nicht.

Goebbels beschreibt das Ergebnis als eine „Polyphonie unzähliger ‚Stimmen‘, die zu eigener Entfaltung gebracht werden“. Man muss kein Antimodernist sein, um in Cages Experiment etwas anderes zu erkennen: Eine babylonische Anti-Symphonie, ein monströses Nebeneinander von „befreiten“ akustischen und visuellen Äußerungen, Sinnbild der Vereinzelung von Individuen, die nur durch die gnadenlose Diktatur einer Maschine – der Uhr – überhaupt in so etwas wie einen Zusammenhang genötigt werden. Eine radikale Freiheit, die nicht nach dem Warum und Wohin fragt. Das überlässt sie, zu erschütternder Gänze, dem Zuschauer.

Werner Häußner

(Gastkommentator - Dank auch an den MERKER-online)

Copyright der Produktionbilder liegt bei der Ruhrtriennale: Klaus Grünberg

 

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