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EIN WERK, DASS ES SEHR VERDIENT, NACHGESPIELT ZU WERDEN - INTERVIEW MIT DETLEV GLANERT ÜBER SEINE NEUE OPER OCEANE

OF: Lieber Herr Glanert, es ist nun etwas über ein Jahr her, dass Ihre neue Oper Oceane ihre überaus gelungene Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin feierte. Ihr Erfolg bei Publikum und Presse war enorm. Können Sie etwas zur Entstehungsgeschichte des Werkes sagen?

 

G: Vor ungefähr 15 Jahren habe ich das Novellenfragment Oceane von Parceval von Fontane entdeckt und es hat mich gleich für ein Bühnenwerk interessiert. Als dann 2012 der Intendant der Deutschen Oper Berlin, Dietmar Schwarz, an mich mit einer Auftragsanfrage herantrat, habe ich ihm diesen Stoff vorgeschlagen, der ihn ansprach: So kam es zur Konkretisierung dieses Projekts. Die Uraufführung war zunächst für 2017 vorgesehen, verschob sich aber aus technischen Gründen um zwei Jahre. Das war gar nicht schlecht, weil ich so wesentlich mehr Zeit zum Komponieren hatte und wir zufällig in das Fontane-Jubiläum gerutscht sind.

 

OF: Als Librettisten haben Sie Hans Ulrich Treichel gewählt, der einer breiten Leserschaft bereits durch seinen Roman Tristanakkord ein Begriff sein dürfte, und der bereits das Textbuch zu Ihrer vor einigen Jahren in Frankfurt a. M. aus der Taufe gehobenen Oper Caligula verfasst hat. Wie kam es zu dieser erneuten Zusammenarbeit?

 

G: Ich war sehr glücklich über Treichels komplette Neuschrift des Theaterstücks von Camus, und er war auch bereits der Deutschen Oper Berlin bekannt durch sein Libretto für Henzes Das verratene Meer - so kamen wir gleich von zwei Seiten auf ihn zu. Auch er sah sofort Potential in dem Stoff. Der große Vorteil von Hans Ulrich Treichel ist, dass er zunächst als Dichter veröffentlicht hat, bevor er sich der Prosa zuwandte, und er ein Kenner des Theaters ist, der sich aber gleichzeitig in einer dienenden Rolle der noch nicht existierenden Musik sieht; und manchmal weiß er durch Einfühlung mehr darüber als der Komponist…

 

OF: Ihre Oper beruht wie gesagt auf Theodor Fontanes 1882 entstandenem Fragment Oceane von Parceval, das leider nicht sehr bekannt ist. Wie stehen Sie zu Fontane? Was mögen Sie an seinen Werken?

 

G: Ohne Zweifel ist er einer der ganz großen deutschen Romanciers. Es gibt leider kaum Opern nach Stoffen von Fontane, was vermutlich an der zeitbedingten Dialoglastigkeit seiner Romane liegt; erst unsere Zeit sieht sich vielleicht in der Lage, eine angemessene Umarbeitung dieser Art Literatur auf der Basis der psychologischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts vorzulegen. Fontane hat immer wieder zwei Hauptthemen behandelt: Der sich nach Liebe sehnende Mensch und seine Inkompatibilität mit der Gesellschaft sowie der clash of cultures oder der Zusammenstoß zweier Zeitalter, das Neue gegen das Alte. Bekanntlich hasste er seine neue Zeit, das Kaiserreich mit seinem Protzentum und seiner Großmannssucht; und schon früh war ihm klar, dass da eine Katastrophe heraufzieht. Interessanterweise personalisiert er beide Grundprobleme in einem Menschenpaar, nämlich Oceane von Parceval und Martin von Dircksen - und das ist das Faszinierende an diesem Novellenentwurf.

 

OF: Robert Carsen hat an der Deutschen Oper Berlin eine ausgezeichnete, sehr vielschichtige Inszenierung geschaffen. War er in Ihre Arbeit mit einbezogen? Hatten Sie die Gelegenheit, ihn bei den Proben zu Oceane zu beobachten? Waren Sie mit seiner Interpretation einverstanden?

 

G: Robert Carsen und ich hatten schon längere Zeit eine Zusammenarbeit geplant, aber wie es so ist: Man braucht eine gute Gelegenheit. Und die bot sich mit diesem Projekt an der Deutschen Oper Berlin, an der er ja schon einige Inszenierungen vorgelegt hat. Wir haben uns mehrfach im Vorfeld getroffen, und er hat veranlasst, dass ihm vorab die ganze Oper auf dem Klavier vorgespielt wird - das hat in einem frühen Stadium zu guten künstlerischen Entscheidungen geführt. Ich war bei sehr vielen Proben anwesend und konnte einzelne Stellen in Zusammenarbeit mit ihm verbessern. Auch er ist ein sensibler Regisseur gegenüber der Musik, und ich denke, dass das Ergebnis das auch in schönster Weise zeigt!

 

OF: Sie bezeichnen die Oceane als ein Sommerstück für Musik. Diese Titulierung mag auf den ersten Blick leicht und harmlos klingen. Der Schein trügt indes. Wir haben es hier mit einem ganz imposanten, dramatischen Stück zu tun, das alles andere als harmlos ist. Was ist der tiefere Sinn von dieser Bezeichnung?

 

G: Ich wollte gerne, dass in dem Untertitel noch etwas anderes subkutan mitschwingt als der bloße Name der Titelfigur: Nämlich das Sommerstück von Christa Wolf, das eine ähnliche Struktur wie Die Wahlverwandtschaften von Goethe aufweist; und die Natur, besonders der Übergang vom Spätsommer zum Frühherbst - sie spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Und das Understatement dieses kleinen Untertitels schien mir auch im Sinne Fontanes zu sein.

 

OF Oceane erscheint als Schwester von Melusine, Undine und Rusalka. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede zu diesen drei Gestalten?

 

G: Der größte Unterschied ist, dass Fontane an die Figur dachte, die dezidiert Mensch ist, also keinen Fischschwanz oder einen Wassermann zum Vater hat. Dennoch trägt sie die Problematik aller Melusinen in sich: Sie möchte lieben, aber sie kann es nicht und leidet darunter. Sie ist extrem unangepasst, sehr sensibel, ungeheuer leidenschaftlich - aber sie ist unfähig, das auf andere Menschen zu übertragen. Für sie ist alles nur ein Bild. Es ist erstaunlich, wie sehr Fontane sich für diese Halbwesen interessierte. Sie tauchen in seinem Gesamtwerk häufig auf, allerdings in vermenschlichter Form und in sehr unterschiedlichen Konstellationen.

 

OF: Oceane ist ein ausgemachtes Naturwesen. Die Natur in Form des Meeres spielt in Ihrer Oper eine wesentliche Rolle. Wie schildern Sie Oceane und das Meer musikalisch?

 

G: Die Sensitivität Oceanes erlaubt ihr, das Meer zu hören, so, wie es vielleicht auch Georg Heym konnte. Ihre Welt ist die menschenleere Natur. In der Partitur stellt sich das zum Beispiel als wortloser und unsichtbarer Chor dar. Sie ist die einzige, die Natur hören kann, und damit setzt sie sich in den Gegensatz zu allen anderen, zur modernen Welt, vor allem und tragischerweise zu Martin von Dircksen. Sie vertritt die Natur wie eine der Sirenen. Martin von Dircksen hat die Funktion eines Odysseus, beides nah an dem, wie Adorno es in der Dialektik der Aufklärung beschreibt.

 

OF: Wie behandeln Sie die anderen Handlungsträger musikalisch?

 

G: Im Grunde ist die ganze Oper aus der Sicht des Meeres komponiert, es gibt auch nur zwei Hauptthemen (auf den Namen Oceane von Parceval und eine Art Fanfare für Martin von Dircksen), alles andere ist Ableitung und Variation. Das Fanfarenmotiv setzt sich aus steigenden Quarten und Ganztönen zusammen, während das Oceane-Motiv aus Terzen und Halbtönen mit fallender Geste gestaltet ist. Durch Instrumentation und eine spezifische Intervall-Strategie ist jeder der Hauptpersonen für sich charakterisiert. Wichtig ist auch die jeweilige persönliche Instrumentationsfarbe, die ich ganz thematisch behandele. Die verschiedenen Abteilungen für die Nebenpersonen werden durchaus auch humoristisch behandelt, um die Fallhöhe zu vergrößern.

 

OF: Oceane hat enorme Schwierigkeiten sich zu artikulieren. Welche Relevanz messen Sie ihrem Schweigen zu?

 

G: Das Schweigen einer Hauptperson musikalisch darzustellen ist ein fortwährendes Problem aller Undinen-Kompositionen, wie zum Beispiel in der Rusalka bei Dvorak. Entscheidend ist aber Oceanes Innenwelt, die wir von ihr wahrnehmen dürfen in Worten und Tönen. Da ihr Schweigen aber auch ein ganz wichtiges Moment in der Erzählung ist, haben wir ihr die Fähigkeit gegeben, für kurze Momente die Zeit stillstehen lassen zu können, zum Beispiel gleich bei ihrem ersten Auftreten. Freies Sprechen gelingt ihr, wenn sie allein ist - ein sehr alter und wunderbarer Operntopos.

 

OF: Ist Oceane ein gänzlich gefühlloses Wesen? Sie scheint ja nur in sich selbst hineinfühlen zu können und ist unfähig, gegenüber den anderen Personen irgendwelche Emotionen aufzubauen.

 

G: Nein, sie ist hoch leidenschaftlich, aber es gelingt ihr eben nicht, dieses Gefühl auf andere Menschen zu übertragen oder sich selbst zu zügeln, und darunter leidet sie. Und dieses Leid treibt sie ja auch bis zu einem Selbstexperiment, nämlich sich Martin von Dircksen gegen Schluss hinzugeben - aber in diesem Moment fühlt sie, dass sie nichts fühlt, was die folgende Tragödie auslöst.

 

OF: Hier meldet sich die Psychologie zu Wort. Insbesondere die Theorien C. G. Jungs spielen hier eine bedeutende Rolle. Inwieweit lassen sich seine Lehren von der Anima und der Individuation auf Oceane anwenden?

 

G: Da ist sicher einiges zu finden. Treichel und ich haben aber absichtlich darauf geachtet, dass wir keine Freud’sche Sitzung auf die Bühne stellen - auch, weil es etwas vom Geheimnis Oceanes wegnehmen würde: So wird sie nämlich von allen anderen Anwesenden empfunden. Psychologische Grundierung ist immer wichtig für die Autoren, aber sie sollte nicht als Belehrung mit dem Zeigefinger fungieren müssen.

 

OF: Kann man sagen, dass Oceane eine Autistin ist? Leidet sie vielleicht unter dem Asperger-Syndrom?

 

G: Ja, da gibt es schon Bezüge, aber sie stehen nicht im Fokus. Sie sind sozusagen gesetzt. Das ist ja auch das Wunderbare der Gattung Oper: Man kann bestimmte Dinge setzen und voraussetzen, um sie dann auf der Bühne zu verhandeln. Zwar ist das zunähst ein surrealer und manchmal sogar irrealer Ausgangspunkt, aber er führt zu einer Art höherer Wahrheit; so in Figaro, Tristan und Isolde, Salome, Wozzeck, Die Soldaten und vielen anderen Opern. Es ist übrigens interessant, dass zu diesem Aspekt große Neugier herrscht: Ein Zeichen, dass diese Figur auf der Opernbühne sehr spannend ist.

 

OF: Im zweiten Akt weist das Libretto eine Szene auf, in der sich Oceane entkleidet. Intendierten Sie und Herr Treichel hier ihre völlige Nacktheit? Wenn ja, welche Absicht verfolgen Sie damit? Hat Oceanes Nacktheit vielleicht einen tiefergehenden, psychologischen Sinn?

 

G: Ihre Entkleidung steht in einer Reihe von Provokationen gegenüber den Anwesenden, derer sie sich gar nicht bewusst ist. Da gibt es zum Beispiel ihren obszönen Tanz im ersten Akt, ihre Manie sehr viel Wasser zu trinken und auf direkte Angriffe gegen sie mit Schweigen zu reagieren. Konkrete Nacktheit auf der Bühne ist durchaus möglich, aber nicht die Hauptsache, denn sie steht ja für etwas Bestimmtes, einen Zustand, ein Problem, eine Haltung. Es ist also völlig egal, ob die Sängerin wirklich nackt ist: Sie muss es so spielen, dass wir sie als entblößt - auch im psychologischen Sinn - empfinden.

 

OF: Welcher Art ist die Beziehung Oceanes zu Martin von Dircksen? Ist dieser ausschließlich ein positiver Charakter oder hat er auch eine negative Seite?

 

G: Er ist kein böser Mensch, kein Unhold, aber er versteht Oceane einfach nicht. Er fühlt sie nicht, und das merkt er nicht einmal. Er ist quasi ein Jung-Siegfried, stürmisch und ein bisschen plump. Alles ist schön und positiv für ihn, und im Grunde sucht er nur eine Frau für die weitere positive Lebensgestaltung. Ich denke, dass er sie sehr mag, aber es ist eine flüchtige, vergängliche, nicht tiefgehende Liebe.

 

OF: Die Gesellschaft in Form des Chores projiziert ihre Wünsche und Sehnsüchte nachhaltig auf Oceane, muss aber schließlich erkennen, dass das völlig nutzlos ist. Haben wir es hier nicht mit angewandtem Feuerbach zu tun? Welche Rolle kommt ihm in Ihrer Oper zu?

 

G: Jede einzelne Person in diesem Stück projiziert etwas auf Oceane, was sie nicht ist, und erwartet etwas von ihr, das sie nicht imstande ist zu geben. Die Gesellschaft ist provinziell, zunächst harmlos und ein bisschen prüde und bockig, dann wird sie aber unter professioneller Anleitung im zweiten Akt zum Mob, zur hasserfüllten Masse mit Vernichtungswillen. Feuerbach spielte für Treichels Arbeit eine Rolle, aber hier ist es wie mit Freud: Man wendet die Kenntnisse an, aber ohne sie zu demonstrieren.

 

OF: Woraus resultiert die starke Ablehnung Oceanes durch die Gesellschaft? Nur weil sie anders ist? Oder gibt es noch einen anderen Grund dafür?

 

G: Erstens, weil sie tatsächlich anders ist als alle. Zweitens, weil sie Dinge tut, die die Gesellschaft nicht tut. Und drittens, weil Pastor Baltzer als oberste Autorität Oceane direkt und brutal verurteilt und angreift; und nichts tut der Mensch lieber, als sich einer anerkannten Autorität unterzuordnen, die aufdeckt, wer eigentlich Schuld an allen Missständen hat, und wer für alle die größte Gefahr darstellt.

 

OF: Wortführer der Gesellschaft ist wie gesagt der Pastor Baltzer, ein nicht gerade sympathischer Zeitgenosse. Irgendwie erinnert er an den Pastor in Michael Hanekes Film Das Weiße Band. Hatten Sie und Herr Treichel diese Figur im Blick, als Sie den Pastor Baltzer konzipierten? Gibt es zwischen den beiden Charakteren irgendwelche Gemeinsamkeiten?

 

G: Hier ein definitives Ja. Die stille, brutale Autorität des Pastors im Film war die Grundlage unserer Erfindung des Pastors Baltzer, der ja in der Novelle nicht so vorkommt. Er ist allerdings auch derjenige, der Oceane von Anfang an durchschaut und sie gleichzeitig bekämpft, weil sie seine Welt, seine Autorität gefährdet. Man könnte sogar spekulieren, ob er sich nicht auch von ihr angezogen fühlt - das macht die Gefahr für ihn und seine Stellung umso größer.

 

OF: Oceane hat dieselben Schwierigkeiten, sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen wie Fontanes Tochter Martha. Würden Sie sagen, dass Fontane seine Tochter vor Augen hatte, als er die Oceane schuf?

 

G: Bei der Lektüre der Briefe von Theodor und Emilie Fontane ist es auffällig, wie sehr beide sich über Martha Sorgen machten, weil sie dieses hochintelligente Mädchen für gefährdet ansahen und sie auch gesellschaftlich inkompatibel war. Sie gab alle ihre Stellungen als Hauslehrerin unter merkwürdigen Umständen auf, heiratete erst sehr spät in eine unglückliche Ehe und endete durch Selbstmord. Ich denke, dass Fontane von Anfang an ein Interesse an komplexen Frauencharakteren und ihren Schicksalen hatte, und in Marthas Fall hat er einen solchen Charakter viele Jahre - sie war seine Privatsekretärin - vor Augen.

 

OF: Wie fügt sich Oceane in den Kosmos der anderen Fontane’schen Frauenfiguren ein?

 

G: Sie steht gleichberechtigt neben Effi Briest, Cécile, Stine und vielen anderen. Die große Leistung von Fontane war, dass er problematische Frauenfiguren in seine Jetztzeit gestellt hat. Und er schildert, was man ihnen antut, wie sie gequält werden durch Konventionen und Autoritäten, auch durch Armut, falsche Ansprüche und Gleichgültigkeit. Da ist ein neuer Ton in der Literatur, eine Klage, Anklage, auch ein Aufruf die Dinge zu ändern. Es verwundert nicht, dass der sehr alte Fontane von der ganz jungen deutschen Literatur der Jahrhundertwende als Vaterfigur empfunden wurde.

 

OF: Ein so phantastisches Werk wie Ihre Oceane hätte es in hohem Maße verdient, nachgespielt zu werden. Haben Sie schon diesbezügliche Anfragen anderer Opernhäuser?

 

G: Zu meiner großen Freude wird die Deutsche Oper Berlin die Uraufführungsproduktion im Herbst 2021 wiederaufnehmen. Es waren noch zwei andere Opernhäuser in der Planung, wovon leider eines wegen Corona abgesprungen ist.

Hier InterviewDetlevGlanert02b

OF: Vielen Dank für das Interview.

 

Ludwig Steinbach, 19.5.2020

Fotos (c) Bettina Stöß

 

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