DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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Ein neuer Stern am Firmament der Opernregie

NADJA LOSCHKY

Interview

 

OF: Liebe Frau Loschky, gestern Abend fand am Theater der Stadt Heidelberg die Premiere von Mozarts „Cosi fan tutte“ statt, bei der Sie für die Regie verantwortlich waren. Das Publikum hat die Produktion begeistert aufgenommen. Was fühlten Sie angesichts des herzlichen Applauses, der Ihnen da am Schluss entgegenschlug?

LO: Darüber habe ich mich selbstverständlich sehr gefreut - ganz explizit auch deswegen, weil ich die Sänger im Vorhinein stark angetrieben habe, sich emotional extrem zu entäußern. Nach der Orchesterhauptprobe hatten wir noch einmal ein langes Gespräch, in dem ich sie erneut bat, mir zu vertrauen und gefühlsmäßig noch einen Schritt weiterzugehen. Und das bedeutete für die Gesangssolisten natürlich einen großen Schritt, der ihnen viel Mut abverlangte. Auf diese Weise stellte sich dann aber insbesondere bei den Liebesszenen eine Sinnlichkeit ein, die von ausgeprägtem Realismus geprägt war. Es war schon eine tolle Bestätigung für mich, dass das Publikum unsere gemeinsame Arbeit so sehr honoriert hat und das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Produktion sich ausgezahlt hat.

OF: „Cosi“ war nach der im Jahre 2012 über die Bühne gegangenen „Entführung“ bereits der zweite Mozart, den Sie in Heidelberg inszenierten. Wie kam es zu einem erneuten Engagement für eine Oper des Salzburger Meisters?

LO: Das war eine Entscheidung des Heidelberger Leitungsteams. Nachdem die „Entführung“ - eine Arbeit, die mir ausgesprochen gut lag und mir auch sehr viel bedeutete -, vom Auditorium so positiv aufgenommen wurde, haben Intendant Holger Schultze und Operndirektor Heribert Germeshausen, die voll und ganz hinter der Produktion standen, mich gebeten, wieder einen Mozart an ihrem Haus zu inszenieren. Zwar war damals ein weiteres Engagement von mir am Heidelberger Theater schon anvisiert und wir hatten auch bereits über das eine oder andere Stück gesprochen. Auf den enormen Erfolg der „Entführung“ haben sie dann aber direkt reagiert und mich gefragt, ob ich nicht „Cosi fan tutte“ bei ihnen machen wolle. Und ich habe ihr Angebot mit Freuden angenommen.

OF: Haben Sie eine besondere Affinität zu Mozart? Gibt es etwas an seiner Musik, was Sie in besonderem Maße anspricht? Was hat sie speziell an der „Cosi“ gereizt?

LO: Einen Mozart zu inszenieren ist eine phantastische Erfahrung. Seine Opern sind wahnsinnig schwer in Szene zu setzen, aber ich arbeite mit seiner Musik und den dazugehörigen Texten unglaublich gerne - schon wegen des starken Humanismus, den sie enthalten. Außer Mozart versteht es nach meinem Dafürhalten nur noch Verdi so ausgezeichnet, psychologische und emotionale Prozesse derart fein nachzuzeichnen und Figuren aus so viel Fleisch und Blut zu erschaffen, dass man als Regisseur die ganze Zeit über wie ein Archäologe dabei ist, eine Schicht nach der anderen freizulegen. Dabei bekommt man noch jede Menge zusätzliches Material an die Hand, das man zu nutzen hat. Jede einzelne Note und Dynamikbezeichnung, jeder Taktwechsel geben einem immer neue Informationen über die Absichten des Komponisten. Und alles das umzusetzen ist wahnsinnig schwer. Deshalb kann ich die Ansicht des Filmregisseurs Michael Haneke - er inszenierte das Stück in Madrid und Brüssel -, dass man an der „Cosi“ eigentlich nur scheitern könne - „die Frage sei nur auf welchem Niveau“ -, gut nachvollziehen. Ich habe das genauso empfunden wie er, denn bei „Cosi fan tutte“ handelt es sich um eine grandiose Partitur, die in ihrer Gesamtheit sogar noch komplexer ist als die der „Entführung“. Ich werde mich sicherlich mein Leben lang mit Mozart beschäftigen.  

Nadja Loschky auf den Heidelberger „Cosi“-Proben – Foto: Florian Merdes

OF: Sie nähern sich der „Cosi“ stark von der surrealen Seite aus. Wo verläuft in Ihrer Deutung die Grenzlinie zwischen Traum und Wirklichkeit?

LO: Das Stück pendelt permanent zwischen Realität und Vision hin und her. Das ist das Faszinierende, gleichzeitig aber auch das Schwierige daran. Zunächst hatten wir bei den Proben sowohl die musikalischen Nummern als auch die Rezitative des ersten Akts mit einem gleichermaßen ausgeprägten Realismus umgesetzt. Nach der Klavierhauptprobe, die ich mir stets so früh wie möglich wünsche, um im Notfall noch die Chance zu umfassenden Änderungen zu haben, merkten wir aber, dass diese Gleichförmigkeit der Struktur der Oper widerspricht. Daraufhin habe ich mich im ersten Teil für eine graphischere Behandlung der musikalischen Nummern entschieden, die im Kontrast zu dem Realismus der Rezitative steht. Und da gibt es im Prinzip schon eine Art Vorgriff auf das Surreal-Traumhafte, das sich dann im zweiten Akt extrem Bahn bricht, wenn die bürgerliche Fassade sich quasi auflöst und sich die sechs Personen auf ihre Seelenreise begeben.

OF: Mozarts Oper hat einen starken Bezug zur Aufklärung. Womit wir bei Rousseau wären. Kann man das Experiment, das Don Alfonso und Despina mit den vier jungen Leuten betreiben, als Menschenversuch Rousseau’scher Prägung ansehen?

LO: Auf jeden Fall. Es ist das Reizvolle an dem Stück, dass man es hier mit drei Bewusstseinsebenen zu tun hat. Da gibt es zunächst diejenige des älteren Paares Alfonso und Despina, die infolge der von ihnen gemachten Erfahrungen einen recht zynischen Blick auf den Erdkreis entwickelt haben. Sie sind überzeugt zu wissen, wie die Welt funktioniert. Ihnen ist augrund ihres vorgerückten Alters und der daraus resultierenden größeren Erfahrung ein viel umfangreicherer Erfahrungsschatz zu eigen als es bei den jungen Leuten der Fall ist. Diese fühlen sich sehr selbstsicher und geborgen in ihrem selbstgebauten und ihnen von der Gesellschaft auch zugestandenen Nest. Ihr Blick reicht aber niemals über diese abgesonderte Realität hinaus. Mit der Musik kommt dann noch eine dritte Ebene hinzu, die die beiden anderen Bewusstseinsterrains aushebelt und entlarvt. Es ist toll, wie Mozart es schafft, zwischen diesen Ebenen eine Brücke zu schlagen. Bei ihm bleiben die Figuren immer Menschen. Und das ist es, was ich so sehr an ihm schätze. Allgemein lehne ich eine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung ab und versuche, wenn ich ein Werk inszeniere, immer alle darin vorkommenden Personen gleichermaßen zu lieben. Ich als Regisseurin muss immer ganz genau verstehen, warum eine Person gerade so handelt wie sie es tut. In der „Cosi“ starten Alfonso und Despina dieses Experiment und wenden dabei auch Mittel an, die zugegebenermaßen etwas rabiat sind. Dennoch bleiben ihre Handlungen für mich nachvollziehbar und sie selbst zutiefst menschliche Charaktere. Man kann verstehen, warum sie sich so verhalten und wo sie das letztlich hinbringt. Am Ende merken dann ja auch beide, dass sie den Bogen überspannt haben.

OF: Sie betrachten die Handlungsträger darüber hinaus stark durch die psychoanalytische Brille. Inwieweit sind die Erkenntnisse eines Sigmund Freud für Ihre Deutung relevant? Machen seine Lehren eine Operninszenierung vielleicht spannender?

LO: Ganz gewiss! Ich beschäftige mich seit Jahren mit diesen Themen. Und das ist auch notwendig. Wenn man sich als Regisseur mit Menschen, ihren Psychen, Traumata, Sehnsüchten, Hoffnungen und natürlich auch ganz stark mit ihrem Unterbewusstsein auseinanderzusetzen hat, kommt man an Freud nicht vorbei. Das Phantastische am Musiktheater ist ja gerade, dass dem Unterbewussten durch die Kraft der Musik Bilder abgerungen werden. Und genau das ist es, was mich an der Oper besonders interessiert. 

Nadja Loschky auf den Heidelberger „Cosi“-Proben – Foto: Florian Merdes

OF: Erhebliches Gewicht kommt in Ihrer Sicht der „Cosi“ dem Begriff der Maske zu. Was bedeutet er für Sie konkret?

LO: Man muss sich mit ihm auseinandersetzen, wenn man „Cosi“ inszeniert, weil dieser Aspekt in dem Stück ganz stark thematisiert wird. Ich habe oft Produktionen erlebt, in denen die Maskerade entweder gar keine Rolle spielte, oder aber stark veralbert wurde. Das waren aber beides keine Wege für mich. Ich verstehe die Masken als Ausdruck innerer Larven. Wieviele Masken trägt der Mensch im Leben? Man trägt ununterbrochen Masken und merkt das oft nicht einmal - oder erst in dem Moment, in dem man sie abnimmt.

OF: Einer zuerst strengen Unterordnung der jungen Liebespaare unter bürgerliche Werte und Normen korrespondiert eine immer stärkere Ausmaße annehmende Unmittelbarkeit der Gefühle. Sind die ausgeprägten Emotionen der Handlungsträger für sie womöglich nur ein Vehikel zur Auflehnung gegen sie beengende althergebrachte Konventionen? Helfen sie Ihnen, zu sich selbst zu finden?

LO: Da kann ich nur mit einem eindeutigen Ja antworten. Genau darauf läuft es hinaus.

OF: Inwieweit nimmt das alte Paar, Don Alfonso und Despina, an diesem Selbstfindungsprozess der Liebenden teil? Können sie da noch partizipieren, wo ihnen als spiritus rectores die Kontrolle über das Geschehen immer mehr entgleitet?

LO: Es ist eine scheinbare Abgeklärtheit, mit der Alfonso und Despina ihren Menschenversuch starten, wobei aber auch eine ordentliche Portion Arroganz mitschwingt. Sie meinen, alles bereits zu kennen und zu wissen, wie die Welt funktioniert und die Menschen sind. Im Laufe der Handlung müssen die beiden aber realisieren, dass sie sich selber gar nicht wirklich kennen und immer stärker an ihre eigenen Grenzen, miteinander und gegeneinander, stoßen. Zunehmend entgleitet ihnen die Kontrolle über das Experiment. Despina wird sich dessen etwas eher bewusst als Alfonso, der nicht in der Lage ist, diese Tatsache zu akzeptieren. Er hat sich gänzlich in seine Thesen verrannt, spürt aber ebenfalls, dass ihm die Fäden entgleiten. Der alte Philosoph ist sich darüber im Klaren, dass dieser Ausgang der Geschichte auch für ihn mit einem enormen Verlust verbunden sein wird: Er verliert seine Freunde. Die Erkenntnis, dass er mit seinen Ansichten nicht recht gehabt hat, erfüllt ihn mit panischer Angst. Darüber hinaus ist er nicht mehr flexibel genug, sich der neuen Situation anzupassen und muss schmerzlich erkennen, dass seine Sicht auf die Welt auf einmal stark zu bröckeln beginnt. Die Verzweiflung, die man im zweiten Akt bei den jungen Leuten spüren konnte, tritt bei ihm am Schluss der Oper ein. Wenn sie noch einen dritten Akt hätte, würden wir in diesem wohl den großen Zusammenbruch Alfonsos erleben.

OF: Die sechs Protagonisten meinen, alle Konfliktlagen gleichsam mit links meistern zu können. Sie erweisen sich aber zunehmend als ihren Problemen nicht gewachsen. Welche Folgen hat diese Überheblichkeit?

LO: Sie stürzen gleichsam in den Abgrund ihrer Gefühle und geraten unfreiwillig in einen Erkenntnisprozess, der für sie ziemlich schmerzhaft ist. Alle sechs glauben zu wissen, wie die Dinge laufen, müssen aber allesamt feststellen, dass sie selbst und die Welt sehr viel verzweigter, abgründiger, dunkler, unendlicher sind als sie ursprünglich angenommen haben. Es tut sich ein bis ins Unendliche ausgedehntes emotionales und auch Identitäts-Labyrinth vor ihnen auf. Mit dieser Reise in die inneren Abgründe geht eine tiefe Verunsicherung der sechs Figuren einher. Dennoch ist es mit Blick auf ihre Zukunft wichtig, dass sie diesen Prozess durchlaufen. Man muss sich fragen, was sie mit den von ihnen gesammelten Erkenntnissen anfangen werden.  

Szene aus der Heidelberger „Cosi“ mit Ensemble und Statisterie – Foto: Florian Merdes

OF: Wie sehen Sie denn den weiteren Lebensweg der drei Paare? Das Happy End stellen Sie ja sehr in Frage. Gehen die Liebenden aus dem Ganzen wirklich so unbelastet hervor wie es uns Mozart und da Ponte glauben machen wollen? Oder werden sie ihr ganzes Leben lang mit den Folgen dieses bösen Spiels zu kämpfen haben? Kann sich bei ihnen womöglich auch eine Psychose entwickeln?

LO: Mit Sicherheit! Am Ende stehen alle Handlungsträger vor einem gewaltigen Scherbenhaufen. Es lassen sich Vermutungen anstellen: Die Freundschaft zwischen Guglielmo und Ferrando ist irreparabel zerbrochen. Und die beiden Schwestern werden sich niemals mehr so nah sein wie beispielsweise zu Beginn des zweiten Aktes bei ihrem Duett „Prenderò quel brunettino“. Diese positive Naivität und diesen gemeinsamen Spieltrieb, die sie hier an den Tag legen, wird es in dieser Form zwischen den beiden nie mehr geben. Auch ihre Verbindung ist zerbrochen und wird nicht mehr zu kitten sein. Guglielmo wird ein zweiter Don Alfonso werden und wohl in Zynismus und Bitterkeit verfallen. Jedenfalls wird er den Sprung, die gemachten Erfahrungen positiv für sich zu nutzen, nicht schaffen. Dasselbe gilt in gewisser Weise auch für Dorabella. Sie wird sich ähnlich wie Despina in eine Schutzhülle zurückziehen und ihre Gefühle hinter einer Fassade von Abgeklärtheit, Ironie und Sarkasmus zu verbergen suchen, um weiteren Verletzungen zu entgehen. Allein Fiordiligi und Ferrando werden eventuell in der Lage sein, stärker und hellsichtiger aus dieser Geschichte hervorzugehen. Wenn bei ihnen erst einmal ein Heilungsprozess eingesetzt hat, kann es sein, dass sie lernen, den Augenblick und das, was sie haben, mehr wertzuschätzen als zuvor. Es ist durchaus möglich, dass sie durch den ausgestandenen Schmerz eine gewisse Weisheit erlangen und in Zukunft von jeglicher Überheblichkeit Abstand nehmen. Beide werden dem Leben in Zukunft wohl etwas demütiger gegenüberstehen, gleichzeitig aber auch mit offeneren Augen durch die Welt gehen und dabei sowohl sich selbst als auch andere Menschen intensiver und vollständiger wahrnehmen.

OF: An einem ausgemachten Trauma ließen Sie in Ihrer „Entführungs“-Inszenierung den Bassa Selim leiden. Das Psychogramm, das Sie damals von ihm entworfen haben, war in höchstem Maße packend. Welche Gegebenheiten legten Sie zugrunde, als Sie die Figur konzipierten?

LO: Ich habe schon oft Deutungen erlebt, in denen der Bassa als abgeklärter, netter Herr über die Bühne geschritten ist und Konstanze freundlich aufforderte, ihn am nächsten Tag doch bitte zu lieben. Ich habe in der Ouvertüre aber schon immer seine ungemeine Brachialgewalt und seinen großen Schmerz gespürt, die hübschem, karnevalsmusikartigem Türkenkitsch überhaupt nicht entsprachen. Diese Erkenntnis hat dann die Grundlage zu meiner Interpretation der Figur gebildet. Ich und mein Team haben uns gefragt, wer dieser Bassa Selim überhaupt ist. Das kann man bereits dem Text entnehmen. Er ist ins Exil gegangen, weil er mit einem Rivalen Probleme bekam, und hat zudem eine Frau verloren, die er über alle Maßen geliebt hat. Diese Informationen des Librettos haben wir sehr genau genommen und ihn sich in ein seelisches Exil zurückziehen lassen. Er hat den Verlust dieser Frau nie überwunden, woraus sich schließlich ein Trauma bei ihm entwickelt hat. So entstand diese gequälte Figur, die dann ihrerseits Konstanze misshandelt und versucht, den Schmerz mit ihrer Hilfe aufzufangen, was natürlich auf diese Art und Weise nicht funktioniert. Ich finde es sehr schlüssig, dass Mozart dieser gequälten Figur den Gesang als Ausdrucksmittel verwehrt. Selim ist so sehr gefangen in seinem Leid, seiner Trauer und seiner Psychose, dass es ihm nicht einmal mehr möglich ist zu singen. Auf der anderen Seite nimmt er an den Arien von Konstanze einen enormen stummen Anteil. Diesen Aspekt haben wir in erster Linie versucht herauszuarbeiten. Und weil dem Theater mit Michael Pietsch ein junger und ausgesprochen musikalischer Schauspieler für den Bassa zur Verfügung stand, ist uns das auch gelungen. 

 

Szene aus der Heidelberger „Entführung“ mit Michael Pietsch (Bassa Selim) und Irina Simmes (Konstanze) – Foto: Florian Merdes

 

OF: In dem von ihm zelebrierten Totenkult für seine verstorbene Geliebte glich der Bassa haargenau dem Paul aus Korngolds „Toter Stadt“. Konstanze wurde gleichsam zu seiner Marietta. War diese treffliche Parallele Absicht oder Zufall?

LO: Das war tatsächlich reiner Zufall. Ich kenne die Oper von Korngold zwar, aber nicht gut genug. Ich habe sie vor Jahren einmal auf der Bühne gesehen und schon immer gedacht, mich mit diesem Stück mal näher auseinandersetzen zu müssen. Ich würde es wahnsinnig gerne einmal inszenieren.

OF: Obwohl er sie nach allen Regeln der Kunst quälte, misshandelte und sogar heftig ohrfeigte, schien Konstanze für Selim doch eine gewisse Zuneigung zu entwickeln. Der Psychologe nennt dieses Aufflammen von Gefühlen eines Entführungsopfers zu seinem Peiniger Stockholm-Syndrom. Wie entwickelte sich dieses bei Konstanze?

LO: Durch ihre starke Isolation. Sie hat keinen Kontakt zu Blonde und Pedrillo, wie es in sonstigen Inszenierungen der Fall ist. Der Bassa hält sie von allen anderen Personen fern und ist der einzige menschliche Kontakt, den sie noch hat. Zunächst kämpft sie wahnsinnig gegen ihn an, setzt sich andererseits aber auch sehr mit ihm auseinander und versucht ihn zu verstehen. Den ihn antreibenden Schmerz, der ihr zuerst unheimliche Angst einflößt und sie abstößt, versteht sie immer besser. Und daraus resultiert letztlich eine seelisch-humane Annäherung nach Art des Stockholm-Syndroms. Konstanzes große Furcht geht allmählich in Verständnis über und es entsteht eine Art emotionale Ebenbürtigkeit zwischen ihr und Selim. In der Marternarie schwingt sie sich schließlich aus ihrer Opferrolle wirklich auf und bietet ihm die Stirn. Beide merken auf einmal, dass sie sich auf Augenhöhe befinden, was für sie einen extrem wichtigen Erkenntnisprozess bedeutet.

OF: Welche Rolle spielte die Zeit dabei? Die vielfältigen Blacks konnten für Stunden, aber auch für Tage stehen.

LO: Genau. Ursprünglich hatten wir noch überlegt, das Ticken von Zeit einzubauen, Es geht ja darum, dass sich ein in Geiselhaft befindliches, an einem unbekannten Ort festgehaltenes Entführungsopfer in einem derart schlimmen Ausnahmezustand befindet, das die Zeit für es quasi nicht mehr messbar ist. Ich hatte mich im Vorfeld viel mit diesem Thema beschäftigt und unter anderem den Bericht über die Reemtsma-Entführung gelesen. Hier wurde beschrieben, wie sich Menschen in so einer Situation gefühlt haben und dabei immer wieder betont, dass dem Betroffenen irgendwann das Zeitgefühl verloren geht, dass er dann nicht mehr weiß, ob Stunden, Tage oder auch nur wenige Minuten vergangen sind. Und dass kann ihn in den Wahnsinn treiben.

OF: Auffällig war die Ähnlichkeit Konstanzes mit Natascha Kampusch. Wo genau liegen die Berührungspunkte bei den Schicksalen der beiden Mädchen?

LO: Ganz konkret bei der Fremdbestimmung, dass jemand aus seinem normalen Leben gerissen und gegen seinen Willen festgehalten wird. Ich habe Natascha Kampuschs Buch „3096 Tage“ damals gelesen. Zum Zeitpunkt ihrer Entführung war sie im Gegensatz zu Konstanze noch keine ausgereifte Persönlichkeit. Umso erstaunlicher fand ich es, dass sie ein gewisses trauriges Verständnis für ihren Entführer Wolfgang Priklopil entwickelte, mit dem sie so viel Zeit verbracht hat. Natascha Kampusch beschreibt auf eine ungemein reife Art diesen zutiefst unglücklichen und zerrissenen Menschen. Bei allem, was er ihr antat, hat man nicht das Gefühl, dass sie ihn aburteilt. Zwar verurteilt sie sein Tun, aber ihn nicht als Mensch, weil sie die Triebfeder seines Handelns erkannt hat. 

 

Nadja Loschky auf einer Probe in Zürich – Foto: Tomasz Slawinski

 

OF: Den Höhepunkt der „Entführung“ bildete die Szene, in der der Bassa Konstanze die Kleider vom Leib reißt und sie einer Zwangswaschung an allen möglichen und unmöglichen Stellen unterzieht, bevor er ihr das rote Kleid seiner verstorbenen Frau aufnötigt. Wie war dieses Bild zu verstehen? Als Ritual ?

LO: Exakt! Als ein absolutes Ritual. Zuvor hatte er sie bereits barfuss über einen Rosenweg laufen lassen. Durch diese rituellen Handlungen reinigt er sie in gewisser Weise von ihrer Vergangenheit und versucht, sie quasi von ihrer alten Identität loszulösen. Ich habe Irina Simmes, die damals die Konstanze sang, immer gesagt, sie müsse eigentlich die ganze Zeit über damit rechnen, dass er sie jetzt gleich vergewaltigt. Aber um eine sexuelle Handlung geht es Selim in diesem Moment überhaupt nicht, sondern vielmehr darum, alles, was Konstanze aus der Vergangenheit noch anhaftet, zu entfernen. Und dazu gehört auch Belmonte. In dem vor der Marternarie neu eingefügten Dialog sagt der Bassa zu Konstanze, dass sie den Zufall in Schicksal verwandeln würden und sie keinen Namen mehr habe. Wie Priklopil bei Natascha Kampusch versucht er Konstanze ihre alte Identität gänzlich zu rauben. Dies geschieht aus dem Bedürfnis heraus, diese gleichsam neu zu formulieren. Das funktioniert selbstverständlich nicht, denn jeder Mensch hat Prägungen und Erinnerungen, die man ihm nicht nehmen kann. Aber Selim befindet sich hier in einem derartigen emotionalen Druckzustand, dass er den Versuch wider besseres Wissen dennoch unternimmt.

OF: Im Folgenden ließen Sie Irina Simmes Konstanzes hoch anspruchsvolle Martern-Arie nur mit Unterwäsche bekleidet singen. Hatten Sie sich damals vielleicht auch überlegt, Konstanze dabei völlig nackt zu zeigen, was in diesem Kontext sicher auch Sinn gemacht hätte? Und Frau Simmes ist eine ausgesprochen mutige Sängerin. Immerhin hat sie sich vom Bassa ganz reell und kräftig ohrfeigen lassen.

LO: Darüber haben wir nie gesprochen, weil ich Nacktheit an dieser Stelle nicht für notwendig erachtete. Auch weiß ich nicht, ob Irina Simmes so weit gegangen wäre. Ausschließen möchte ich das indes nicht, falls es ihr plausibel erschienen wäre. Allgemein sind die Heidelberger Sänger/innen sehr an der Dramatik der jeweiligen Aufführung interessiert und bereit viel zu wagen, sofern man es ihnen einleuchtend erklären kann. Und bei den Ohrfeigen hat Frau Simmes wirklich ungeheuren Mut bewiesen. Sowohl sie als auch Herr Pietsch haben sich mit enormer Emotionalität in die Szene geworfen. Und dass sie sich während der Vorbereitungszeit ineinander verliebt haben und ein Paar wurden, hat den Entstehungsprozess noch mehr gefördert. Es wäre unmöglich gewesen, so ein Bild mit zwei Darstellern zu bauen, die sich nicht mögen und kein Vertrauen zueinander haben. Denn gerade die Ohrfeigen waren eine ganz große Vertrauensfrage. Und wir haben lange gebraucht, bis wir an den Punkt gekommen sind, an dem diese Drastik möglich war.

OF: Denken Sie, dass Bassa Selim bei Konstanze eine echte Chance hätte, wenn es da nicht diesen Belmonte gäbe?

LO: Konstanze hat den Bassa, obwohl zwischen ihnen so schreckliche Dinge geschehen sind, sicher in ihr Herz geschlossen und wird ihn mit Sicherheit auch weiter in ihrer Seele leben lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie viele Jahre später, wenn sie ihre Traumata aufgearbeitet hat, wieder in der Lage sein wird, auf Bassa Selim zuzugehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass er bei ihr dann eine Chance hätte. Und dass ihre Beziehung zu Belmonte ein gutes Ende nimmt, bezweifle ich. Irgendwann, vielleicht nach zwanzig Jahren, wird Konstanze eventuell vor dem kleinen Anwesen des Bassa in der Provence stehen, in das dieser sich zurückgezogen hat, und an der Haustür klingeln. Eine vergleichbare Situation gibt es in dem Film „Verhängnis“, der uns bei unserer Arbeit sehr inspiriert hat. Darin spielt Jeremy Irons einen Mann, der sich im Alter in ein karges, weiß getünchtes kleines Häuschen im Süden zurückzieht und dort, abgeschieden von der Welt versucht, sein Trauma zu bewältigen.

OF: Insbesondere bei der „Entführung“ war das Vorbild von Hans Neuenfels, dem Sie früher häufig assistiert haben, deutlich spürbar. Was haben Sie von dieser Regielegende lernen können? 

 

Nadja Loschky auf einer Probe in Zürich – Foto: Tomasz Slawinski

 

LO: Neuenfels ist für mich eines der wichtigsten Vorbilder, quasi eine Art Mentorfigur. Er hat mir insbesondere den Zugang zum Unterbewusstsein der Figuren durch Bilder vermittelt, welche die Musik auslöst. Weiter hat er mich gelehrt, bzgl. der Intensität der Personenführung niemals nachzulassen. Es hat mich wahnsinnig fasziniert, wie er kämpft und um Stoffe ringt. Eindrucksvoll ist auch, wie er seine Darsteller inspirieren kann. Er ist immer sehr gut vorbereitet und weiß, wenn er auf die Probe kommt, immer ganz genau, was er will. Er setzt sehr hohe Maßstäbe an seine Umgebung, die härtesten aber an sich selbst. Und genau das hat mich am meisten an ihm beeindruckt und nachhaltig geprägt. Meine kurze Assistentenphase nach meinem Studium war stark von Neuenfels geprägt; mit anderen Regisseuren hatte ich es in dieser Zeit kaum zu tun.

OF: Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich auf eine Inszenierung vorbereiten?

LO: Ich fange vor allem früh genug damit an und gehe dabei auch sehr genau vor. Prinzipiell nehme ich, wenn möglich, keine Regiearbeit an, bei der ich nicht mindestens ein Jahr Vorlaufzeit habe, weil ich regelmäßig so lange brauche, um mich dem jeweiligen Werk in angemessener Weise zu nähern. Zuerst höre ich mir immer nur die Musik an, um einen ersten emotionalen Eindruck von ihr zu gewinnen. Den schreibe ich mir auf und notiere ebenfalls alle Ideen und visuellen Impressionen, die beim Hören in mir entstehen. Der Text spielt in diesem Stadium eine untergeordnete Rolle. Die Erkenntnisse, die ich bei diesem ersten Schritt gewinne, werden erst mal auf Papier gebannt, in eine Box gelegt und für einige Zeit auf die Seite gelegt. Dann erst beginnt die genaue Analyse des Werkes, bei der ich das Libretto ausführlich unter die Lupe nehme und Hintergrundmaterial sowie psychologische Texte rund um das in Frage stehende Thema studiere. Anschließend benenne ich sämtliche Themengebiete, die ich in dem Stück entdecke, und bearbeite diese anschließend im Einzelnen. Dann treffe ich mich mit meinen Bühnen- und Kostümbildnern und tausche mich mit ihnen über diese Gebiete aus. Wir fragen uns, was wir überhaupt erzählen wollen und wie das Ganze letztlich aussehen soll. Wenn wir uns darüber im Klaren sind, beginne ich, mich mit Verhaltensweisen in der von uns gewählten Welt auseinanderzusetzen und nach Material zu suchen, das man daraus schöpfen kann. Wenn irgendwann dann ein grober Entwurf von Bühne und Kostümen vorliegt und die Bauprobe stattgefunden hat, setze ich mich vor Probenbeginn hin und lerne die Oper so gut es geht auswendig.

OF: Nähern Sie sich einer modernen Oper anders als einem traditionellen Werk? Werden Sie beispielsweise an Christian Josts „Rote Laterne“, die Sie in der nächsten Spielzeit in Zürich in Szene setzen werden - Premiere ist am 8. 3. 2015 -, anders herangehen als beispielsweise an die „Cosi“?

LO: Jedes Stück ist anders. Weil ich, wie gesagt, immer von der Musik her an eine Oper herangehe und Herr Jost eine ganz andere Tonsprache hat als Mozart, werde ich die „Rote Laterne“ bei der Erarbeitung meiner Interpretation mit Sicherheit anders behandeln als die „Cosi“, aber selbstverständlich mit derselben Ernsthaftigkeit und den gleichen psychologischen Genauigkeiten.

OF: Josts Oper liegt der gleichnamige Film von Zhang Yomou zugrunde. Das Anwesen darin kann man getrost als Analogie für andere totalitäre Systeme betrachten. Ein solches stellte auch der Nationalsozialismus dar. Die schlimmsten Verbrechen des Hitler-Regimes, die Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern, haben mit Mieczyslaw Weinbergs Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ bei den Bregenzer Festspielen 2010 erstmals den Weg auf die Bühne gefunden. Könnten Sie sich vorstellen, dieses geniale Werk selbst einmal zu inszenieren?

LO: Unbedingt! Das ist eine ganz phantastisches Oper mit einer drastischen, auf Tatsachen beruhenden Handlung und einer atemberaubenden Musik. Die „Passagierin“ wäre eine ungemeine Herausforderung für mich. Das Stück ist derart stark und so gut geschrieben, dass ich mir sehr gut vorstellen könnte, es einmal selbst auf die Bühne zu bringen. 

Nadja Loschky – Foto: Privat

OF: Was ist Ihrer Ansicht nach das Besondere an der „Passagierin“?

LO: Dass Weinberg es geschafft hat, in seiner Musik die Gräuel von Auschwitz zu thematisieren und in eine Kunstform zu übersetzen, ohne dass es in hohles Pathos ausartet. Diese Umsetzung ist wirklich nicht einfach. Ich finde, dass Weinberg die Brücke ganz ausgezeichnet geschlagen hat. Als ich die „Passagierin“ vor fast genau einem Jahr zum ersten Mal in Karlsruhe gesehen habe, war ich sehr stark berührt von ihr. Und das ging anderen garantiert auch so.

OF: Sicher ist die „Passagierin“ in hohem Maße geeignet, mit den Mitteln des Musiktheaters einen gewichtigen Kontrapunkt gegen das Vergessen zu setzen. Glauben Sie, dass sie sich auf den Opernbühnen durchsetzen wird?

LO: Das kann ich mir sehr gut vorstellen. In Karlsruhe haben die Zuschauer auf das Werk ja sehr positiv reagiert. Da wurde offenkundig, welches Interesse das Publikum der „Passagierin“ entgegenbringt. Wenn sie am Badischen Staatstheater mit einer derartigen Begeisterung aufgenommen wird, warum sollte das nicht an einem anderen Opernhaus in gleicher Weise der Fall sein? Ich bin mir sicher, dass das Werk seinen Weg machen wird. Qualität setzt sich durch!

OF: Wo und was werden Sie in nächster Zeit inszenieren? Wird Sie Ihr Weg auch wieder an das Theater Heidelberg führen?

LO: Mit Sicherheit. Schon deshalb, weil mich eine lange Bekanntschaft mit Intendant Holger Schultze verbindet und wir uns vorgenommen haben, auch künftig zusammenzuarbeiten. In der nächsten Zeit steht eine neue „Butterfly“ in Bielefeld an, anschließend die von Ihnen bereits erwähnte „Rote Laterne“ in Zürich und dann in Oldenburg Boieldieus „La dame blanche“, auf die ich mich besonders freue.

OF: Herzlichen Dank für das Interview.

 

Ludwig Steinbach, 20.5. 2014

 

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