GLUCK-FESTSPIELE 2016
T.M.A. COMING OF AGE
Theater Mummpitz im Kachelbau.
20.7. 2016
Aus Alt mach Neu oder Glucks Gripstheater
Glucks Telemaco gehört zu jenen „Reformopern“, die am unbekanntesten geblieben sind, woran auch nichts die wenigen hochbesetzten Aufführungen der letzten Jahrzehnte etwas ändern konnten. Wenn die Gluck-Festspiele nun dem Werk eine Jugendfassung verpassen, wird es sozusagen ein weiteres Mal reformiert: denn die einstündige Version, die im Theater Mummpitz ihre Uraufführung erlebte, ist nicht einmal mehr eine Readers-Digest-Version. Wer sich mehr als vier Nummern des 1765 uraufgeführten Feststücks, das anlässlich einer hochfürstlichen Hochzeit aus der Taufe gehoben wurde, erwartete, musste enttäuscht werden – denn angekündigt wurde ja auch nicht „Glucks Telemaco“. Auf dem Programmzettel stand, sehr präzis, T.M.A. Coming of Age – Musik von und mit Wrongkong nach Motiven von Christoph W. Gluck. Nichts da also von der komplexen Zauberhandlung, die Gluck seinerzeit in 6 Bildern nach einem vormetastasianischen Libretto Marco Coltellinis ablaufen ließen. Kein Odysseus, nirgends – aber genau hier, in der Abwesenheit des Vaters eben jenes Telemach, setzt T.M.A. ein.

Bezeichnete Anna Amalie Abert den Telemaco in ihrer Gluck-Biographie als „ein ziemlich verworrenes zweiaktiges Zauberstück im Geschmack jener Frühzeit“, wobei aber ein „aus großen, bildhaften Szenenblöcken zusammengesetzten Reformwerks zustande gekommen“ sei, so entwarf die Dramaturgin Verena Harzer ein konzentriertes Jugendstück, in dem die zwei Opernmotive („Die Suche nach dem Vater“ und „Der Kampf gegen die Zauberin“ bewahrt wurden. Befreit aber wird hier nicht der Vater aus den Zauberbanden der fatalen Liebeshexe, sondern die drei orientierungslosen Jugendlichen – allesamt etwa 13 Jahre jung -, die entweder ihren Vater vermissen, weil er immerzu auf Weltreise ist (Tobias alias Telemach), weil er sich verflüchtigt hat, da Mama der Meinung ist, dass Männer eh keine braucht (Astrid alias Asteria) oder weil er, da arbeitslos, permanent zuhause ist (Misha alias Merione). Der Weg ins Zauberreich ist ein Weg zur eigenen Identität, die im halb digitalen, halbrealen „T.M.A.“-Spiel gegen die Verlockungen der Circe erobert werden muss: in Freundschaft, nicht in sozialem Autismus.
Man sieht: eine gewitzte Dramaturgie, deren ästhetische und sprachliche Mittel für junge Leute, nicht für ein erwachsenes Publikum erdacht wurden, kann sich noch aus dem „alten Gluck“ jene Bausteine herausbrechen, die das „Allgemein Menschliche“ des Opernmythos in die Gegenwart eines musikalischen Grips-Theaters zu bringen vermag. Aus den Zauberwerkzeugen der Helden werden die magischen Hilfsmittel Waschgel, Kopfhörer und Taschenlampe, aus einem großen Orchester ein Quartett von Klavier, Violine, Violoncello und Oboe (es spielt: das Kammerensemble der Hochschule für Musik unter Mariam Chatzaki). Aus den altpathetischen Texten Coltellinis werden neupathetische, die die Weisheit bekräftigen, die zu Beginn mit einer Gruppe Jungs und Mädchen über die Videoleinwand pixelt: „Ohne Freunde können wir nicht leben“. Da singt man dann auf Glucks typische Melodien Texte wie „Mädchen sind nervig“ oder „Wohin führt mich mein Leben? Was will ich überhaupt?“ Gluck auf neudeutsch, sozusagen; der jugendgerechte Dialog überrascht mit einer Formel wie „Bio-Bitch“. Okay. Der Steigerung von Duett und Terzett folgt die Zauberhandlung, wenn sich unsere drei Coming-of-Ager ins existentielle Spiel begeben. Circe bleibt Circe – denn Cyrena Dunbar vom Duo Wrongkong switcht vom Mikro in den Film auf die Bühne, wo sie den drei Prüflingen mit einer ziemlich mystischen Silberblondhaarperücke auflauert. Die Monsteraugen werden durch die Zauberlampe vernichtet, das Monsterfressen, dem zunächst der gierige Misha zum Opfer fällt (der standesgemäß zur Sau gemacht wird), wird einfach ausgekotzt (das dient, das ist zweifellos schräg, als Hilfsmittel), und mit Hilfe des „Zauberhelms“ gelingt schließlich auch die dritte Prüfung. Das Level 4 aber wird nur bestanden, weil, natürlich, die drei Junghelden zusammenhalten. Und Schlussterzett, klar: „Nie mehr einsam durch das Leben“, das passt schon. Die Popmusik von Wrongkong passt übrigens gut ins Konzept; Alt und Jung krachen so stark aufeinander, dass es musikalisch sehr schön splittert – und die Betonung liegt auf „schön“. Ein Reformöperchen eben.

Unter der Regievon Ulrich Proschka - den der Rezensent noch als Schauspieler der Studiobühne Bayreuth in guter Erinnerung hat, der bei den Festspielen hospitierte, dann ans Staatstheater Nürnberg ging und hier schon hübsche Abende inszenierte - treten Sophia Bauer, Daniel Thomas (Telemaco) und Jakob Kreß (Merione) auf die Szene der Bühne im Kachelbau des Theater Mummpitz. Sie machen das musikalisch, trotz Glucks schlichtem Hochton, unpathetisch und, für die begeisterten kleinen Zuschauer, szenisch sehr überzeugend. Eine Nummer mehr von Gluck: das wäre nett gewesen, aber eine konzentrierte Stunde mit einer pädagogischen Dramaturgie reicht aus, um, sozusagen von hinten, dem gebannt schauenden Opernzuschauernachwuchs wenigstens einen Hauch des Großmeisters der vorromantischen Musikdramatik um die Nasen wehen zu lassen.
Frank Piontek 22.7.16
Fotos: Ludwig Olah
ERÖFFNUNG MIT ELINA GARANCA
Meistersingerhalle, 16.7. 2016
Ähnelt sie nicht der schönen blonden Frau Musica, die man in der Wandelhalle auf einer monumentalen Tapisserie erblickt? Nur, dass „sie“ nun mit etwas kürzeren Haaren vor die (notorisch begeisterte) Öffentlichkeit tritt?
Sie: das ist Elīna Garanča, die zusammen mit dem Philharmonischen Orchester Brünn in der Meistersingerhalle die Nürnberger Gluck-Festspiele eröffnet. „Die Macht der Musik“, so lautet der Titel des aus Gesangsnummern und Orchesterstücken gemixten Programms, das alles mögliche enthält, nur nicht die Musik des Festivalgotts. Macht nichts: mit dem Verweis auf die Tradition, in der (selbst wenn sie es nicht wahrhaben wollten) noch die großen französischen Opernkomponisten des späten 19. Jahrhunderts standen – Massenet, Saint-Saëns, Gounod, Bizet -, wird das Programm legitimiert. Ein Unterthema des diesjährigen Oberthemas „Streit“ ist die Auseinandersetzung mit dem religiös Anderen; dass wir zwei Arien aus Samson et Dalila und Gounods La reine de Saba, also aus zwei nahöstlichen Opern hören, mag ein schöner Zufall sein.
Die Veranstalter bleiben auch mit Tschaikowsky und Glinka im 19. Jahrhundert; über Carmen (eine Paraderolle der Garanča) wird die dramaturgisch schöne Verbindung zu drei klassischen Pasodobles, einer Zarzuela und dem Superhit Granada gestiftet. Höhepunkt folgt auf Höhepunkt in diesem denn doch genau gearbeiteten Programm: Die Arie der Johanna aus Tschaikowskys Jungfrauen-Oper Orleanska Dewa zeigt uns, rein musikalisch betrachtet, Frau Garanča als Schwester von Onegins Tatjana, die Arie von Gounods Königin von Saba entzückt durch ihre typisch gounodsche Melodienschönheit; das klingt, mit seiner strahlend gebrachten Coda, wie Meyerbeer - nur wesentlich besser, also melodisch prägnanter… Saint-Saëns' Dalila ist mit diesen Interpreten ein einziger vokaler Traum, dem das fantastische, fantastisch kräftig und doch klangrein gespielte Bacchanale (dessen rhythmischer Spannung noch Maurice Jarre einiges verdankte, als er seine geniale Musik zu Lawrence of Arabia komponierte) auf dem Fuß folgt. Dazwischengelegt: die Sonntagskonzertnummer aus Massenets Thais. Musik für alle; kein Wunder: sie ist ja exzellent, und sie wird, vom Primgeiger und der Harfe, exzellent gespielt. So exzellent, wie die beiden Pasodobles namens Gallito und Gerona von Santiago Lope Gonzalo (klingen sie nicht ein bißchen wie ein hispanisierter Johann Strauss) und der Pasodoble El Gato Montes von Mario Penella Moreno. Die Gala, ein Gemischtwarenladen? Warum nicht – wenn man derartige Juwelen endlich einmal „live“ erlebt?

Wo die Stimme und das Orchester über allen Zweifeln erhaben sind, weil die Dramatik nicht der absoluten Klangschönheit und die dynamische Dezenz nicht der dramatischen Impotenz zum Opfer fällt, erweist man dem stilbildenden Musikdramatiker Gluck, dem sogar ein Richard Wagner huldigte, eine indirekte Ehre. Es ist schon ein kluger Schachzug der Intendanz, das Festival nicht mit einem Spezialprogramm, sondern einem populären Abend, ja: mit der vergleichslos schwungvollen Ouvertüre zu Glinkas Ruslan und Ljudmila beginnen zu lassen. Garančas Ehemann Karel Mark Chichon dirigiert bereits sie mit Liebe (und einem präzis wie locker geführten Taktstock). Die Garanča aber schlüpft mühelos in die konzertanten Opernrollen, lässt ihren Mezzosopran spielen und wechselt bruchlos die Register. Sie müsste, die Carmen-Suite nach der vitalen wie genau gestalteten Ouvertüre herrlich machend, gar nicht in ein knallrotes Gewand gleiten; die roten Fingernägel und die dunkle Stimme reichen völlig aus, um aus der „Gala“ eine musikdramatisch sinnreiche Collage zu machen. Es reicht, dass die Garanča die Séguidille spielt und nur „Ra-la-la-la“ singt, nein: zaubert. Die Macht der Musik…
Gluck, dem es irgendwann nur noch auf dramatische Wahrhaftigkeit ankam, wäre zweifellos begeistert gewesen.
Frank Piontek 18.7.16
Foto: Ludwig Olah
Zweiter Bericht
von Egon Bezold
Konzertant herausgeputzte Opernszenen gleichen oft genug einem Organismus ohne Blutkreislauf. Ob sich das die Komponisten so vorstellten, ihre ausschweifenden Träume vom Menschen und vom Leben zur wohlfeilen Highlights abqualifiziert zu sehen? Da bedarf es schon einer Star-Mezzosopranistin vom Schlage der Lettin Elina Garanca, einer modernen Künstlerin, die weiß, was sie kann und vor allem: was sie wert ist. Ihre Stimme ist ein Geschenk. Wunderbar leuchtend klingt ihr Mezzo – wie geschmeidig und beweglich sie doch ihr Material einsetzt um in einer Zone musikalischer Schönheiten mit strömenden Gesangslinien zu brillieren. Die lupenreine Intonation, die Sicherheit in den hohen Regionen und Belcanto-Sensibilität vergnügte das Publikum zur Premiere der Internationalen Gluck Opern-Festspiele in der Nürnberger Meistersingerhalle gewaltig. Geschwelgt und applaudiert wurde über die Maßen. Zum Schluss wurde der Weltstar mit Standing Ovations verabschiedet.
Kunterbunt fiel der Arien-Strauß aus, den die Interpretin und ihre Gatte, Karel Mark Chichon am Pult des Philharmonischen Orchesters Brünn, flochten: Arien aus vier Opern, dargeboten in der französischen Originalsprache. So lässt Peter Tschaikowskys Aria der Johanna (aus „Die Jungfrau von Orléans“) die Seele so richtig wallen. Die Garanca führt ihre Stimme zu expressivem Ausdruck. Ein wenig zuckrig „meditiert“ der Konzertmeister aus Jules Massenets Oper „Thais“. Weit gespannte melodische Phrasen tragen „Mon coeur s’ouvre à ta voix“ aus dem musikdramatischen Meisterwerk „Samson und Dalila“ von Camille Saint-Saens (zweiter Akt). „Es wird Nacht. Samson nähert sich Dalila. Sie betört ihn und gaukelt ihm ihre Liebe vor“. In Charles Gounods „La Reine de Saba“ siniert die Königin über ihre geheime Liebe zum Tempelbaumeister: „Plus grand, dans son obscurité“. Den zarten Zwischentönen, den subtilen Lyrismen, die der Figur den Zauber der Entrücktheit verleihen, bleibt die Garanca keinesfalls schuldig.
Zwischen den Arien schieben sich orchestrale Intermezzi, die in Saint-Saens „Samson“ in der „Bachanale“ durch ausgefeilte Rhythmik orientalischen Eindruck vermitteln. Verstärkt wird der exotische Charakter durch Einbeziehung des Schlagwerks, chromatische Verzierungen und Bordunquinten. Schlussendlich sorgt Karel Mark Chichon für flotte Zeitmaße, deftigen rhythmischen Pfeffer in drei „Pasadobles“ aus Spanien. Die klangliche Aufhellung und dynamische Abstufung im Blech kündet von übersprudelnder, von südlicher Lebensfreude kündender Rasanz.
Gespannt-schwungvoll, frei von effekthascherischer Trivialität, ertönen nach der Pause Orchesterstücke und Arien aus Georges Bizets „Carmen“. Hörgenuss bereiten die Entr’act-Musiken, die vom Brünner Orchester betörend emphatisch aufgeladen musiziert werden.
Knallrot gewandet, in schicker Robe, erscheint die Carmen von Elina Garanca und gibt „L’amour est un enfant de Boheme“ aus dem ersten Akt in der seltener zu hörenden Urfasssung. Was kann die Figur der Carmen doch alles sein: sie kann Wunschträume von Sex wecken, prickelnde Folklore der Zigeuner zaubern und vokalen Glanz wecken. Sei es wie es will: Eigentlich entspricht die blonde Garanca weniger dem Typ einer glutäugigen Zigeunerin. Wenn sie sich im traditionellen Sinn als stolze Carmen offenbart und dem Schicksal unverdrossen trotzt, dann erscheint sie auf der Konzertbühne in einem grundsolide seriösen, ein wenig braven Profil. Freilich gebietet sie über eine strahlkräftige, leuchtende Stimme, die ganz edel in den höheren, ebenso substanzreich in den tieferen Registern klingt. Die flammende Leidenschaft und Sinnlichkeit überhaucht sie ein wenig mit distanzierender Kühle. Keine Frage, dass „Habanera“ und „Seguidilla“ verführerische Qualitäten signalisieren ohne den Verdacht von Verführungsplattitüden zu erwecken. Eine Primadonnen – Carmen verkörpert die Garanca wohl kaum. Da wirken die Gesten, das Stemmen der Arme in die Hüften oder in die Höhe gestreckt, ebenso die wiegenden Bewegungen zur Seite gar nicht mit Raffinement durchdacht. Doch verbreitet das musikalische Profil, die fein abschattierten Kantilenen und die biegsame Elastizität der Legato-Bögen, große Sympathien.
Respekt gebietet die sorgsame, spannungsvoll-dichte, mitatmende Begleitung durch Karel Mark Chichon. So klingt bei ihm Bizet gestrafft, rhythmisch federnd, bündig, scharf angerissen in den Orchesterschlägen. Die begleitenden Kommentare des vorzüglich disponierten Orchesters drängen sich in den seltenen Fällen vorlaut auf.
18.7.16