DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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STILLE: Cage, Ligeti, Mahler, Mallwitz

Meistersingerhalle, 18.2. 2022

 

Wie dirigiert man Stille?

Stille gibt es nicht – muss man es bedauern? Aber Stille, sagt Joanna Mallwitz, die GMD der Nürnberger Staatsphilharmonie, „Stille ist für uns existentiell. In den letzten zwei Jahren haben wir die Stille ganz neu erfahren. Deshalb ist 4‘ 33‘‘ eine ‚Schweigeminute‘“, ein Gedenken für all das, was in den letzten Jahren nicht erklingen konnte. Aber Stille gibt es nicht. Joanna Mallwitz zitiert John Cage, der die Beobachtung machte, dass man selbst und gerade in einem akustisch völlig abgeschirmten Raum sein eigenes Blut durch die Adern schießen hört. Stille gibt’s schon deshalb nicht, weil, um damit Schluss mit den Zitaten aus der Konzerteinführung des 4. Philharmonischen Konzerts, weil sie, die Zuhörer, „gewissermaßen alle Mitspieler dieses Stücks sind.“

Und wie klingt nun Cages revolutionäres, freilich nicht voraussetzungsloses Werk (es ist ein Opus, denn wer es aufführen will, muss die Rechte an ihm, d.h.: an einer der verschiedenen Fassungen erwerben) – wie klingt nun also 4‘ 33‘‘ unter Joanna Mallwitz und mit der Nürnberger Staatsphilharmonie? Ereignisreich. Die Aufführung beweist einen Satz, den ich vor einigen Jahren in einer Konzertkritik las: dass es unmöglich sei, die Werke Anton von Weberns in einem Konzertsaal adäquat aufzuführen – in der Meistersingerhalle hört man zunächst mehr oder weniger definierbare Geräusche (Türenschlagen; Gespräche vor der Tür), während aus dem Zuschauersaal, soweit dies möglich ist, nichts tönt; es reicht, dass die Lauschenden atmen, sodass man das Schlucken unter der Maske der Sitznachbarin deutlich vernimmt. Zuletzt, in der vierten Minute, kommen einige wenige zaghafte Huster aus den hinteren Reihen ins Spektrum, nachdem sich die Türen und die Vordentürenstehenden entschlossen haben, keine Töne mehr zu produzieren. Joanna Mallwitz, die „Proportional Version“ (von 1952/53) als Umblätter-Partitur und einen Miniaturbildschirm mit Countdownzählung vor sich, senkt zum dritten Mal die Arme – fast übergangslos geht es zu György Ligeti über; der Ansatz von Atmosphères ist, so ausgeführt, schlicht und einfach: großartig. Denn die „auskomponierte Stille im Universum“, wie Joanna Mallwitz Ligetis Klangwerk nennt, entwickelt sich mit einem plötzlichen Clusterakkord unmittelbar aus der Stille heraus, als könnte es nicht anders sein. Die Frage, was Musik ist, die mit einem alles erklärenden Satz widerspruchsfrei beantwortet werden kann, hat mit Ligetis Atmosphères eine besonders aparte Erläuterung gefunden: Musik ist die Organisation von Klang. Dies gilt selbst für Cages Stück, das eben nicht still ist, sondern die Voraussetzungen dafür schafft, Stille und ihre permanente Brechung als stets neue Musik zu ermöglichen. Ligeti entwarf mit seinem Orchesterstück eine Welt, die, so Joanna Mallwitz, „klingende Stille“ ist. Die Staatsphilharmonie spielt es mit all seinen Schönheiten, die den (scheinbaren) Widerspruch von Konsonanz und Dissonanz im puren Klang aufheben: von den tiefsten Blechblasregistern zu den höchsten, fast unhörbaren, im Schweigen mündenden Streicherflageoletts. Ligeti kam es dabei weniger auf die Demonstration der Brillanz seiner Orchesterbehandlung im Rahmen eine konsequent amelodisch changierenden Struktur an. Er sprach vom affektiven Gehalt des Werks – die Staatsphilharmonie spielt es so delikat, dass man nach knapp 10 Minuten bedauert, dass es schon bald im Nichts verdämmert.

 

 

 

Stille, so heißt das Konzert, aber was hat das Motto mit Gustav Mahlers 5. Symphonie, also einer Symphonie zu tun, die bekanntlich über weite Strecken eine ungeheure Dynamik entwickelt und im Vielklang einer höchst entwickelten Kontrapunktik den Hörer mit parallel laufenden Stimmen geradezu überwältigt? Vielleicht war es das Adagietto, ein Liebeslied für Streicher und Soloharfe, das zwar nicht lautlos, aber gegenüber den anderen vier Sätzen geradezu balsamisch anmutet. „Die 5. ist schwer, sehr schwer“, schrieb der Komponist an den Dirigenten Willem Mengelberg, aber wenn wir am Abend die Nürnberger Staatsphilharmonie am Werk hören, begreifen wir, dass diese Schwere – ein Produkt der polyphonsten Vokalverflechtungen, der gelegentlichen Klangmassierung und der überraschenden Stimmenwechsel – glänzend gemacht werden kann, wenn jemand am Pult steht, der sich die Kontrolle über alle Instrumentalisten bewahrt. Joanna Mallwitz „kann“ das alles: den schneidigen Beginn des Trauermarschs, den hymnischen Choral, den Tanz (den höllischen und den lyrischen), den Zusammenbruch und das Volksfest des Finales. Plötzlich begreift man, was Mahler meinte, als er verzweifelt darauf hinwies, dass man die Musik dieser Symphonie nicht begreifen würde. Die Interpretation bringt es an den Tag: Mahler erwies sich als kritischer Schüler Bruckners, als er mit dem Prinzip Per aspera ad astra schlussendlich eine Vereinigung von weltlichem Getümmel und göttlichem Überbau auskomponierte, wobei der Choral nicht am Schluss des Finales steht, aber während des Allegro giocoso sich ins Gewühl wirft: nicht als Krönung, aber als zeitweilige Begleitung. Man hört’s indes „nur“ deshalb, weil Joanna Mallwitz es versteht, die leidenschaftlichen Charaktere der Mahlerschen Musik, nicht zuletzt mit ihrer Gestik und Körperspannung, deutlich herauszuarbeiten. Dem Vorwurf, dass es bei Mahler ein Zuviel oder Zulang gäbe, der noch nicht verstummt ist, antwortet sie mit einer glasklar strukturellen Deutung einer Musik, in der das Pathos und die Burleske gleichermaßen zuhause sind. Ligeti schätzte Mahler; in einem Aufsatz wies er einmal auf die Raffinesse der Instrumentation zumal der 5. Symphonie hin; in Nürnberg spielt Roland Bosnyák das Solohorn im zweiten Satz: eine Meisterleistung, so wie die des gesamten Orchesters. Mahler schrieb einmal, dass es in der Musik auf die Distinktion ankäme, so dass selbst in schnellen Passagen noch jede Note hörbar sein müsse. In Nürnberg, unter Joanna Mallwitz, klingt die 5. selbst dort noch klar, wo die Polyphonie an den Rand des unmittelbar Verständlichen zu kommen scheint. Am Abend waten weder die Musiker noch die Zuhörer im Klangbrei. Begann das Konzert mit einer organisierten Stille, die nicht still war und nicht still sein sollte, so endete er mit dem fantastischen Schlusssatz einer Symphonie, die im überbordenden, aber gleichfalls organisierten Jubel endet – und im Jubel des Publikums, das die Musiker und die Dirigentin begeistert feierte.

 

Frank Piontek, 19.2. 2022

Foto © Pedro Malinowski

 

 

                                

16. Juli 2021       

Meistersingerhalle Nürnberg

Hochromantik in der Meistersingerhalle

Joana Mallwitz und Andrei Ioniţă interpretierten Schumanns Cellokonzert a-Moll op.129 und Mendelssohn Bartholdys vierte Symphonie a-Dur „Italienische“op.90.

 

 

Die Nürnberger Meistersingerhalle, in den 1960-Jahren als Konzerthaus erbaut, verfügt im Großen Saal über eine Fläche von 2079 m² sowie ein Raumvolumen von über 20 000 m³ und kann, je nach Bestuhlung, zwischen 944 und 2121 Besuchern Platz bieten. Für den verwöhnten Konzertbesucher wirkt diese zu groß geratene Schuhschachtel zunächst irritierend. Aber es erweist sich auch in Nürnberg: die Schuhschachtel-Struktur ist für die akustischen Bedingungen von Konzertsälen ein Optimum und verzeiht viele Raumgestaltungssünden; aber eben nicht alle Diskrepanzen beim Orchesterspiel. Trotzdem ist man überrascht, im imposanten Flachbau trotz langem Nachhall eine befriedigende Klangentfaltung zu erleben.

Nachdem die zweite Bewerbung des Robert Schumann (1810-1856) um die Aufgabe des Leipziger Gewandhauskapellmeisters gescheitert war und seine Bemühung um die Stelle des Dresdner Hofkapellmeisters kaum zu einem Ergebnis zu führen schien, nahm er 1850 das Angebot des Düsseldorfer Stadtrates an, als Nachfolger Ferdinand Hillers (1811-1885) zu wirken. Von den Rheinländern im September des Jahres freundlich empfangen, fand er trotz der vielfältigen Aufgaben als Städtischer Musikdirektor die Zeit, in der Euphorie des Neuanfangs innerhalb kurzer Zeit zwei seiner bedeutsamsten Kompositionen zu schaffen: die „Rheinische Symphonie“ und, bereits im Oktober 1850 das „Konzert für Violoncello und Orchester a-Moll op. 129“. Innerhalb von sieben Tagen skizzierte er das Werk und hatte es nach weiteren sieben Tagen fertig instrumentiert.

 

 

Tragisch, dass die Zusammenarbeit mit dem für die Uraufführung gewünschten, aber offenbar überschätzten Solisten Robert Emil Bockmühl, nicht funktionierte. Ob der Wirren der weiteren Düsseldorfer Dienstzeit und in der Folge der Erkrankung Schumanns wurde zunächst eine Aufführung des Cello-Konzertes regelrecht vergessen. Nach einem zaghaften Versuch, Cello mit Klavierbegleitung, 1860 in Leipzig, einer Uraufführung 1867 in Breslau, eroberte das Konzert erst im 20. Jahrhundert dank hervorragender Schallplatten- und CD-Einspielungen seinen verdienten Platz in den Repertoires. Inzwischen gilt es „als Traum aller Cellisten“.

Ob Dmitri Schostakowitsch 1963 im Hinblick auf Schumanns dramatische Situation in den Jahren nach der Arbeit am Opus 129 zu seiner etwas unglücklichen Bearbeitung veranlasst worden war, indem er der Orchesterbesetzung eine Piccolo Flöte, eine Harfe und zwei Hörner zufügte, ist unbekannt geblieben.

Der aus Rumänien stammende Solist des Abends Andrei Ioniţă gilt nicht zu Unrecht als einer der führenden Cellisten seiner Generation.

Nach dem er mit dem Gewinn des ersten Preises des Moskauer Internationalen Tschaikowski-Wettbewerbs 2015 nach Bad Kissingen gekommen war, um den Luitpold-Preis des Fördervereins „Kissinger Sommer“ für 2016 zu erhalten, begleiten wir, wo immer möglich, sein umfangreiches Wirken. Inzwischen ist er auch als Solist in Klavierkonzerten aufgetreten.

 

 

Andrei spielt auf einem Violoncello aus der Brescianischen Werkstatt des Giovanni Battista Rogeri (1642-1710) aus dem Jahre 1671.

Schumanns Konzert bot er ohne Überspitzungen oder Zurschaustellungen mit weitsichtig gestalteter Brillanz, Tonschönheit, gepaart mit Kultiviertheit und Noblesse.

Das Orchester der Staatsphilharmonie Nürnberg erwies sich als gleichwertiger Partner des Solisten. Seine Generalmusikdirektorin und Dirigentin des Abends Joana Mallwitz sicherte, dass sich die Musiker nicht in monotonen Begleitfiguren langweilten, sondern rhythmisch-harmonische Facetten hervorbringen konnten. Leider ging sie mit dem Solisten nicht immer partnerschaftlich um, veranlasste ihn gelegentlich zum Forcieren oder überdeckte sein Spiel.

Mit einer Zugabe konnte Andrei Ioniţă sein überragendes Können unbeeinflusst demonstrieren. Vom ersten Ton der Bach-Komposition war man vom reichen, intensiven Celloklang, seiner Eleganz und sensiblen Gestaltung gefesselt. Das völlig unprätentiöse auf das Nötigste beschränkte, aber mit Farbenreichtum, Zartheit und Kraft gebotene Spiel offenbarte das faszinierte Klanguniversum des aufstrebenden Musikers.

 

 

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) hat sich mehrfach durch landschaftliche Eindrücke zu großen Kompositionen beeinflussen lassen. So fanden auch Erlebnisse einer Reise mit Goethes „literarischem Italien-Reiseführer“ von 1830/31 ihren Niederschlag in seiner populärsten, der 4. Symphonie, der „Italienischen“.

Mit ausgewogenem Orchesterklang nahm uns Frau Mallwitz in den beschwingt-tänzerischen Einstieg des Kopfsatzes mit und versprach ein heiteres ausgelassenes Hörerlebnis. Mit ihrer Interpretation des zweiten Satzes, Andante con moto, vermied die Dirigentin ein Abgleiten ins Melancholische und konnte damit das filigrane Zarte betonen. Mit den beiden abschließenden Sätzen betonte sie vor allem das Unbeschwerte und Lebensfrohe der italienischen Mentalität.

Mit ihrer Auffassung der Mendelssohnschen Komposition vermittelte uns Joana Mallwitz eine differenzierte Verbindung von klassischem Formsinn mit einer tiefen Wärme und Innigkeit in den Empfindungen vermittelt. Jedes Detail war in eine stimmige Gesamtstrategie integriert, so dass große Spannungsbögen zur Wirkung kamen.

Die uns in den letzten Wochen präsentierten Orchester beherrschten das Musizieren mit den Corona-bedingten Abständen und dass jeder Musiker ein eigenes Podium einnimmt, inzwischen recht gut. Bei den Nürnbergern gab es aber, möglicherweise bedingt vom großflächigen Orchesterpodium, Nachholbedarf.

 

Thomas Thielemann, 19.7.2021

 

Bilderrechte:    

Meistersingerhalle Matthias Dengler c. Staatstheater Nürnberg

Joana Mallwitz Simon Pauly c. Staatstheater Nürnberg

Andrei Ioniţă Andrei Ioniţă

Staatsorchester Nürnberg Ludwig Olah

 

 

VERFEMTES LIED

Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände am 23.6.2018

Unter der Betondecke: Berg und andere Meister der Oper und des Liedes

 

Es fällt schon sehr schnell nicht mehr auf, dass man die feingliedrigen und noch sehr jugendstilverhafteten Liedgebilde Alban Bergs unter der Betondecke des größten Bauwerks hört, das die Nazis als Einzelbau konzipiert und zumindest teilweise ausgeführt haben. In der THW-Halle, wo einst die Besucher der Reichsparteitage empfangen wurden, hört man, so Jasmin Goll vom Forschungsinstitut für Musiktheater (Kurz: FIMT), die Lieder der „Verfemten“ anders. Dies mag stimmen oder nicht; es ist zumindest eine schöne Pointe der Geschichte, dass man die Werke der „Entarteten“ genau hier hört, wo das Staatstheater in der vorletzten Spielzeit das Leonore-Projekt „Töt' erst sein Weib!“ uraufgeführt hat. Schon damals war

Margarita Vilsone (eine Lettin, keine Italienerin) dabei. Nun steht sie auf der kleinen Bühne in der großen, doch durch den Einbau einer Ausstellung intimisierten Halle, um ein paar Lieder zu singen. „Hitler. Macht. Oper“, so heißt die Schau über die NS-Zeit in der Nürnberger Oper; wir haben anlässlich der Herausgabe eines Symposionbändchens über das Projekt berichtet.

Die Vilsone sieht zu Beginn des packenden Abends so aus wie das, was sie singt: schön und schwarzglänzend wie die „Nacht“, in der die Vilsone die Zärtlichkeit des Impressionismus erfühlt, der auch der Mann am Klavier, also Marcelo Amaral, nachspürt. Zärtlich klingt und wird gespielt „Die Nachtigall“, der Alban Berg in seinen „7 Frühen Liedern“ den Beigeschmack des Hochromantischen gab. Ihre Messa di voce ist, man wundert sich nicht, auch im Rilke-Lied „Traumgekrönt“ angemessen subtil. Sollte jemand in diesen Momenten noch an irgendein WM-Spiel mit Beteiligung einer „deutschen Nationalmannschaft“ gedacht haben, wäre ihm kaum zu helfen gewesen.

Apropos deutsch: Sprachen die Nazis auch in Sachen Musik von einem „völkerfeindlichen Internationalismus“, den sie in den Werken der „Verfemten“ zu erkennen glaubten, so erinnern die frühen Lieder Arnold Schönbergs noch stark an Brahms und Wagne, während man, das sind so Gedanken während eines Konzertes der „Verfemten“, darüber wundern muss, dass die Nazis den harmonisch und expressionistisch extremen „Tristan“ als „deutsch“ bezeichnet haben.

Jochen Kupfer, der Edelbariton des Nürnberger Opernhauses, singt auch Schönberg deliziös. Jasmin Goll erläutert in ihrer Conference die Kampflinien einer nationalsozialistischen Musikpolitik (Goebbels sprach 1938, in Bezug auf Wagner, vom „Kampf gegen das Judentum in der deutschen Musik“), während Vilsone, Kupfer und Amaral beweisen, wie subtil dieses angeblich „Jüdische“, das heißt: „Entartete“ ist. Es dauert zwar ein bisschen, bis Goll die Anbindung an die Werke dieses Abends findet, da es sich fast ausschließlich um Frühwerke Schönbergs, Bergs, Schrekers und Zemlinskys handelt, zudem zwischen 1933 und 1945, trotz Schubert-Rezeption, das Kunstlied aufgrund seines psychologisch-individuellen Gehalts im Massenstaat einen schlechten Stand hatte. Bei Viktor Ullmann, dem Komponisten der Parabel vom „Kaisers von Atlantis“ und anderer Bühnenwerke, ist sie mitten im Terror angelangt. Doch seltsam: die drei Sonette, die Margarita Vilsone singt – Ullmann schrieb sie nach Gedichten der Louise Labé – lassen, obgleich im Jahre 1941 komponiert, sofort den Schrecken vergessen, den der Kommentar evozierte. Das macht: Die Freiheit auch der Ullmannschen Kunst. „Eine schwebende Harmonik. Es war eine unsichere Zeit“, sagt Jasmin Goll – und Margarita Vilsone führt uns, sensitiv, aber auch kapriziös, in die Zeit Debussys, auch in die französische Renaissance. Hier die NS-Zeit mit ihrem „Kultur“-Terror, dort die Neuromantik, die von Schreker ins Lied gebracht wurde. Jochen Kupfer singt frühe Sachen, „Rosengruß“, „Rosentod“ „Waldeinsamkeit“ und „Überwunden“ heißt das dann. Noch vor der vorletzten Jahrhundertwende, noch lange vor den ersten Weltkrieg sind diese Lieder entstanden, die die Nähe zu Wagner nicht verleugnen, sondern betonen – in „Überwunden“ wird ein Wagnersches Kernmotiv, die ansteigende Skala aus dem „Tannhäuser“ und dem „Rienzi“, unverhohlen (und reizvoll) zitiert. Jasmin Goll kommentiert die Nürnberger Spielplanpolitik der späten Weimarer und der NS-Zeit; viel Umstellung musste da unter dem patriarchalisch und erfolgreich agierenden Intendanten Johannes Maurach nicht sein, denn das Nürnberger Haus verstand sich schon vor 1933 als bürgerliches Stadttheater, das dem Experiment abhold war. Und doch: Unter Maurach kamen in neun Spielzeiten drei Schrekers und ein Zemlinsky („Der Kreidekreis“) zur lokalen Erstaufführung. Vergleicht man diese Zahl mit der Zahl der lokalen Opern-Ur- und Erstaufführungen in der Dekade der Intendanz Peter Theiler, so fällt übrigens auf, dass es unter Theiler zwar ein breiteres und historisch vertiefteres Repertoire, aber nicht mehr Novitäten als unter Maurach gab.

Zemlinsky: auch er ist am Abend mit drei gleichsam „ernsten Gesängen“, vertreten. Kupfer singt aus den „Fünf Liedern auf Gedichte von Richard Dehmel“, dem sich auch Schönberg, nicht allein in der „Verklärten Nacht“, kompositorisch gewidmet hat. Dehmel war ein Modedichter und doch wesentlich mehr; es ist schön, an diesem Abend die „Erwartung“ Schönbergs (aus op. 2) jugendstilhaft umrankt zu hören und den Text wahrzunehmen, den er, Schönberg, nach eigener Aussage während der Komposition nicht in interpretatorischen Betracht zog. „Erwartung“ schillert in den irisierenden Farben der Edelsteine, „drei Opale blinken; durch die bleichen Steine schwimmen rot und grüne Funken und versinken“, dem Pathos gesellt sich eine luzide Klarheit hinzu, die von Kupfer ernst, daher auch mit einem unfreiwilligen wie hauchzarten Anflug von Ironie gebracht wird. Den Schluss aber macht die Vilsone, Schönbergs und Johannes Schlafs „Waldsonne“ kommt in ihrer neuromantischen Abendglut schlicht und einfach wunderschön ins Publikum.

Entartet? Wenn „entartete“ Musik so klingt, möchte man nichts anderes mehr hören.

 

Frank Piontek, 24.6.2018

Fotos ©Ludwig Olah

 

 

MATTHÄUS PASSION

Nürnberg, Lorenzkirche

Premiere: 19.5. 2017. Besuchte Vorstellung: 20.5. 2017

Eine für den Gottesdienst komponierte Passion in einer szenischen Aufführung, geht das? Natürlich geht das – vorausgesetzt, man kürzt das dreistündige Werk um etliche Choräle und Arien, kürzt auch einige Arien und setzt einen Schauspieler ein, der eine problematisch gewordene Hauptrolle ins Heute bringt. Vorausgesetzt auch, dass man es mit einem Regisseur zu tun hat, der sich der Eigenheiten der Religionsgeschichte bewusst ist und ein Terzett von drei religionsbezogenen Werken mit der Matthäuspassion abschließen möchte. Im Übrigen heißt der Abend in der Lorenzkirche nicht „Matthäuspassion“, sondern „Matthäus. Passion“. Der kleine Punkt markiert den gewaltigen Unterschied zwischen konzertantem Original und musikdramatischer Fassung, zwischen Textgläubigkeit und -kritik, zwischen Hörstück und Schauspiel. Nein, man hat es bei David Mouchtar-Samorais szenischem Oratorium nicht mit einem mehr oder weniger peinlichem Nachvollzug der Passionsgeschichte im Stil der Oberammergau Festspiele zu tun, sondern mit einer Fassung, die den Stoff ins Heute bringt, ohne jedoch gänzlich auf nacherzählende Aspekte zu verzichten.

Aus 180 Minuten hat Mouchtar-Samorai zusammen mit dem musikalischen Leiter Guido Johannes Rumstadt, der das Orchester der Hochschule für Musik Nürnberg (ein Extralob für die Konzertmeisterin Ayaka Omura, die die Arie „Erbarme dich“ sehr beseelt singt) und den Bachchor St. Lorenz so sicher leitet wie Jesus seine Schafe weidet, knappe 100 kurzweilige Minuten gemacht. Im Mittelpunkt steht nicht nur eine Person – die von Joachim Kupfer notorisch beseelt und stimmschönst gesungene Partie des zu erlösenden Erlösers -, sondern auch eine zweite: der Sündenbock der Heilgeschichte, an den und an dessen Nachfahren (obwohl doch auch Jesus und die Jünger nichts anderes waren als Juden) sich die Menschen bis heute vergehen. Judas wurde immer wieder rehabilitiert, am beeindruckendsten von Nikos Kazantzakis, Walter Jens und Amos Oz; Mouchtar-Samorai nutzt vor allem den griechischen Roman und Oz' Thesen über die Figur des Mannes, der im Sinne des Heilsplans notwendigerweise schuldlos schuldig werden musste. Bei Mouchtar-Samorai herrscht gar eine freundschaftliche Beziehung zu Jesus, der das Dilemma des als Verräter gebrandmarkten und zutiefst unglücklichen Jüngers bezwingend auf die Kirchenbühne bringt. „Was zwischen diesen beiden vorgeht, ist das Rätselhafteste der Passion diesseits der Gottverlassenheit des Gottesknechts selber“, schrieb einst Hans Blumenberg in seinem Buch „Matthäuspassion“. Das Problem des schuldlos Schuldigen, der so schuldig denn doch nicht sein kann, weil die Absurdität der Anklagen gegen Judas auf der Hand liegt, ist einer der Gipfel dieser „Matthäus.Passion“. Schon zu Beginn des Dramas wird aus der Kippa, die Jesus ihm reicht, das Kainsmal des textilen Judensterns (der Nürnberger Opernfreund erinnert sich an die Mütze, die Beckmesser in der Inszenierung dieser Produktion einst trug). Wird er vom antisemitischen Mob zusammengeschlagen – denn der Regisseur erzählt uns zugleich eine chronologische wie eine überzeitliche Geschichte -, hebt der Sopran zu trauern an: „Buß und Reu“.

Mouchtar-Samorai deutet Bachs und Picanders Passionstext um, ohne ihm aus heutiger Sicht Gewalt anzutun. So holt er aus ihm jenes Gran an Humanität heraus, das in rein orthodoxer Lesart den Christen vorbehalten sein müsste. Man verschweigt in Nürnberg nicht, dass die Matthäuspassion in einer lutherischen Tradition steht, die Auschwitz möglich gemacht hat. Dafür sorgen nicht allein die Programmheftbeiträge, sondern auch die Projektionen, die auf den langen, von Heinz Hauser entworfenen, schmalen Gazeschleiern spaltartig ins Bühnendrama hineinragen und nicht nur ein blaues Chagall-Bild erkennen lassen. Allein der jüdisch-irakisch-englisch-deutsche Regisseur, der in Nürnberg Rossinis Moses-Oper und Saint-Saens' Samson und Dalila-Drama inszeniert hat, verweist darauf, dass es ihm letzten Endes nicht um katholische, protestantische, jüdische oder andersreligiöse Statements geht. Eine Mutter mit Kind ist so gut eine Madonna mit Christusknabe wie eine deutsche/jüdische/chinesische… Mama mit jüdischem/türkischem/algerischem/schwedischem... Sohn – im simplen Schlussbild wird die Intention dieses Dramas so erschütternd wie einfach offenbar, dass der Schlussapplaus lange braucht, um auszubrechen. Wer die Schlusspointe und die Einlassungen Judas (verkörpert durch den Schauspieler Frederic Böhle) für kitschig hält, mag sich vergegenwärtigen, dass die Zeit immer noch derartige Symbolbilder benötigt, weil das, was man als Weltfrieden zwischen den Religionen bezeichnen könnte, vermutlich uneinlösbar ist. Der Rest ist Trauer, muss Trauer sein. Wir setzen uns mit Tränen nieder – auch die Mütter mit ihren Kindern.

Dass Christus in einer beklemmenden Szene das Abrahamsopfer wiederholen will und verzweifelt daran scheitert: dies ist eine der erfundenen Szenen eines Passionsdramas, in dem immer wieder Lebende Bilder und symbolhafte Szenen Bachs seinerseits kommentierenden Passionstext kommentieren. Zwei jüdische Alte treten auf, ein Knabe darf in einem Freudenfest (zu zwei tänzelnden Oboen: „Ich will dir mein Herze schenken“) eine Thora aufschlagen, und Judas schreit: „Gebt mir meinen Jesus wieder!“ Mouchtar-Samorai scheut sich nicht, antisemitische Stereotypen direkt auszustellen: den geilen Juden, der das extrem blondzöpfige „Christenmädel“ bedrängt, Geld scheffelt und fies grinst. In Nürnberg, der Stadt des „Stürmers“ und der Rassegesetze, ist das so plakativ wie richtig; im Ganzen der differenzierten Dramaturgie wirken derartige Einsprengsel, die man für politisch korrekt halten könnte, eher spielerisch als platt. Den Mörder Barrabas, einen wahrhaft schlimmen Finger, bringt der Regisseur als eine Art Hannibal Lector auf die Bühne: in Kontrast zum Heiligen Jesus. Eine Partygesellschaft tanzt um zwei abgeschnittene Köpfe herum, die wie der Kopf des Jochanaan auf Tabletts getragen werden, der uralte Hohepriester agiert als schlappe Marionette eines jugendlichen Sängers. Wer lenkt hier wen? Im Ausgleich zwischen Judentum und neuem Christentum entwirft Mouchtar-Samorai zugleich das historische Bild innerjüdischer, von der christlichen Deutung seltsam nacherzählter Konflikte und zugleich die gebrochenen Geschichte von Judentum und Christentum; dass die Priester des Tempels die Farben Violett und Blutrot tragen, ist kein synkretistischer Zufall, sondern ein Hinweis darauf, dass die Welt überall dort im Argen ist, wo Bürokraten der Geistlichkeit die wahre Religion diktieren wollen.

Doch Christus stirbt nicht – zumindest nicht in dieser Version, die am Ende den nachdenklichen Interpreten der Rolle des ausgesprochen lyrisch agierenden Predigers und seinen Erzähler nebeneinander sitzen lässt; der helle Tenor Martin Platz singt einen jugendlichen Evangelisten mit klarster stimmlicher Kontur. Extrem viel zu tun hat an diesem Abend das „Favoritenensemble“: 15 Frauen und Männer, die agieren und singen und neben den ausgesprochen guten Solisten Wonyong Kang (Petrus), Jens Waldig (Pilatus), Michaela Maria Mayer, Irina Maltseva, Ilker Arcayürek und den anderen Sekundanten das Volk verschiedenster Art bilden: Jünger und Jüngerinnen, Geistliche, Gehetzte, Vergnügungssüchtige, gefangene Juden, nicht zuletzt Zuschauer und -hörer des Geschehens, mit anderen Worten: Menschen wie du und ich.

Wie gesagt: zustimmender Beifall – nach unendlich langen Sekunden, in denen das Drama dieses Abends – halb Nacherzählung und Rollenspiel, halb Interpretation - noch einmal nachdenklich und notwendigerweise traurig nachklang.

Frank Piontek, 21.5. 2017

Fotos: Ludwig Olah.

 

 

 

 

 

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