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 PARIS BALLETT

 

Jiri Kylian

DREI BALLETTE

Opéra de Paris / Palias Garnier – 28.12.2016

Zu Sylvester gibt es dieses Jahr Ballett im Palais Garnier und in der Opéra Bastille

An der Opéra de Paris gibt es zu Sylvester keine „Fledermaus“ sondern ein großes klassisches Ballett, so wie letztes Jahr noch „La Bayadère“ in der opulenten Inszenierung van Rudolf Nurejew (siehe Merker 1/2016). Dieses Jahr gibt es ausnahmsweise zwei Ballette, denn der neue Ballettdirektor Benjamin Millepied, der zusammen mit dem neuen Intendanten Stéphane Lissner angetreten ist, wollte dem Ballett seinen früheren Status zurückgeben – die Pariser Oper wurde ja schließlich durch Ludwig den XIV. gegründet, der selbst ein hervorragender Tänzer war. Millepied konnte den Musikdirektor Philippe Jordan überreden, persönlich große Ballette zu dirigieren, wie seine Antrittsproduktion „Daphnis et Chloé“ (siehe Merker VI/2014) und war ein glänzender Kommunikator. Er erfand teure Ballett-Gala-Abende, wo er zusammen mit seiner Frau, einer bekannten Hollywood-Schauspielerin, erschien, und hat bei seinem offiziellen Antritt im Herbst 2015 mit solchen Abenden mehr Geld für die Oper aufgetrieben als wer auch vor ihm. Doch nach weniger als sechs Monaten schmiss Millepied das Handtuch am Tag bevor Lissner im Februar 2016 seine zweite Spielzeit bekanntgab.

Beide Herren besaßen den Anstand, um ihren Streit in den französischen Medien nicht zu kommentieren – also brauchen wir es auch nicht zu tun – und innerhalb weniger Stunden wurde die gerade in Rente gehende Tänzerin Aurélie Dupont zur neuen Ballettdirektorin ernannt. Sie bekam die nicht einfache Aufgabe, um Millepieds großes Programm nun so weit wie möglich durch zu ziehen. Denn mit dem Hollywood-Star verschwanden auch die großzügigen Spender und aus Los Angeles gab Millepied bekannt, dass die Opéra de Paris keine seiner Ballette mehr spielen darf. Diese sollten aber gerade die große Weihnachtsüberraschung der jetzigen Feiertage sein. Geplant war die ungeheure Anzahl von 48 Ballettabenden im Dezember. In der Opéra Bastille 19 mal „Schwanensee“ in der berühmten Nurejew-Produktion, im Palais Garnier 6 Vorstellungen der Eleven der Ecole de Danse und 23 Vorstellungen eines neues Millepied Balletts (zusammen mit einer Hommage an den englischen Choreographen Antony Tudor). Das sind insgesamt 98 000 extra teuere Ballettplätze in einem Monat – das gibt es an keiner anderen Oper der Welt.

"Tar and feathers"

Anstatt Millepied kamen nun drei Ballette von Jiri Kylian, 1947 in Prag geboren, den man wohl nicht mehr vorzustellen braucht. Von den über hundert Balletten von Kylian, die noch regelmäßig gespielt werden, fanden nur zehn Eingang in das Repertoire der Opéra de Paris, u.a. auch weil Kylian sehr viele Tourneen machte mit dem Nederlands Dans Theater, für das er beinahe alle seine Ballette entworfen hat. Das NDT hat so eine starke Identität – es ist die einzige Tanz-Kompanie der Welt mit auch einer gleichberechtigten Kompanie für jüngere und ältere Tänzer – dass sich seine Ballette nicht leicht exportieren lassen. Das erste Ballett des Abends, „Bella Figura“, 1995 mit dem NDT uraufgeführt, ist schon seit 2001 im Repertoire der Opéra de Paris. Die beiden anderen, „Tar and Feathers“ (2006) und „Symphony of Psalms“ (1978), wurden nun zum ersten Mal in Paris gespielt. Die Handlung der drei 20-minütigen Tänze lässt sich schwer zusammenfassen, da sie eben keine Handlungsballette sind und Kylian auch nur bedingt der Musik folgt. Eines seiner Markenzeichen ist, dass in beinahe jedem Stück auch minutenlang in Stille getanzt wird.

„Bella Figura“, auf Musik von Pergolesi („Stabat Mater“), Vivaldi (concerto für zwei Mandolinen), Torelli (concerto grosso) und Marcello (concerto für Oboe), ist eine Variation auf ein Thema das gut ins Palais Garnier passt: „eine gute Figur machen“. Vier Tänzer verführen fünf Tänzerinnen in immer neuen Konstellationen, in stilvollen Tanzkostümen von Joke Visser. Die Besetzung ist an diesem Abend nicht die allerbeste die die Oper zu bieten hat – das ist bei 48 Ballettabenden in einem Monat wohl unvermeidlich. Statt Jérémie Bélingard und Aurélie Dupont – 2001 hervorragend in diesen Rollen – sehen wir Alessio Carbone und Alice Renavand. Carbone ist einer der ganz wenigen Solisten des Ballet de l’Opéra de Paris, der nicht hier in der Tanzschule begann. Er folgte dem Unterricht seiner Eltern an der Tanzschule der Scala, tanzte dort im Ballett und kam erst mit 24 Jahren nach Paris. Das ist wohl der Grund warum dieser hervorragende Tänzer bis heute nicht zur „étoile“ ernannt wurde, obwohl er seit zwanzig Jahren zu den Publikumslieblingen gehört und seine Partnerin – wohl eine „étoile“ – vollkommen in seinem Schatten bleibt. Alle tanzen technisch perfekt, aber da kommt es bei Kylian nicht drauf an. In den komplizierten Gruppen, wo die Tänzer ihre halbnackten Partnerinnen hochheben, und Skulpturengruppen bilden die an den Bildhauer Auguste Rodin (und auch an einige Ballette von Maurice Béjart) erinnern, geht es nicht mehr um klassischen Tanz, sondern um Archetypen der menschlichen Beziehungen. Diese werden hübsch und artig auf die Barock-Musik getanzt (eine Geste auf jede Note) und das Ganze bekommt etwas „höfisches“, das Ludwig den XIV. wahrscheinlich gefallen hätte, aber uns (und den Grossteil des Publikums) vollkommen kalt ließ.

"Symphonie of Psalms"

Im zweiten Ballett „Tar and Feathers“ hat Kylian – auch sein eigener Bühnenbildner – einen Flügel auf die Bühne gestellt, dessen Beine um vier Meter erhöht wurden. Dort oben sitzt die Pianistin Tomoko Mukaiyama, die zu Mozart Klavierkonzert Nr 9 etwas Eigenes als „live-Improvisation“ erfindet. Zu den Tänzern können wir wenig sagen, denn sie wiederholten ungefähr genau das Gleiche, was wir im vorigen Ballett schon gesehen haben. Der Höhepunkt war also das dritte Ballett, das einzige mit nur einer Musik: Stravinskys „Psalmensymphonie“ (von der leider nur Auszüge gespielt wurden). Hier zeigte sich Kylian von seiner besten Seite: große Ensembles, Symmetrien, durchbrochene Kreise – perfekt getanzt durch das Ballett der Opéra de Paris. Doch damit der Abend wirklich großartig hätte werden können fehlte eines: Entgegen aller Versprechungen des Intendanten und der neuen Ballettdirektoren, dass man die Ballettabende nicht mehr durch zweitrangige Gast-Orchester begleiten würde, sahen wir etwas noch Schlimmeres: einen leeren Orchestergraben. Alle drei Ballette wurden mit Tonband begleitet! Und darüber sprachen einige Besucher ihre Empörung aus. Denn wenn man 130, 143 und an gewissen Feiertagen sogar 250 Euro für einen Platz (im Parkett) zahlt, kann man doch zumindest „live-Musik“ erwarten. Darüber klagen die Tänzer der Pariser Oper seit Jahren: „mit dem Ballett wird das Geld verdient, was dann in der Oper ausgegeben wird“.

Waldemar Kamer 19.1.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online (Paris)

Fotos (c) Ann Ray / Opéra de Paris

 

 

LA BAYADÈRE

Opéra de Paris / Opéra Bastille – 30.12.2015

Ein viel zu wenig bekanntes „großes romantisches Ballett“ - das letzte und prächtigste von Rudolf Nurejew

Zum Jahresende gibt es auch an der Pariser Oper traditionell ein großes Ballet von Marius Petipa. Dieses Mal gab es anstatt der Kassenschlager „Dornröschen“ (1890), „Nussknacker“ (1892) oder „Schwanensee“ (1895) 23 Vorstellungen der viel weniger bekannten „Bayadère“ (1877). Das „große romantische Ballet“ von Petipa ist genau so prächtig wie „Schwanensee“, wird jedoch viel weniger gespielt und wenn, dann leider meist nur in zerstückelter Form. Eine Bajadere ist eine indische Tempeltänzerin – so wie man sich diese in Europa vorstellte. Goethes Gedicht „Der Gott und die Bajadere“ inspirierte Scribe und Auber zu dem Ballett „Le Dieu et la Bajadère“ (1830), das Filippo Taglioni für seine berühmte Tochter Marie Taglioni choreographierte. Paris war begeistert, und die Mode des „indischen Orientalismus“ florierte. Balzac berichtete mit Schmunzeln, dass man auf den Boulevards den Kaffe nun sitzend auf Kissen zu trinken habe: im Café „La Bayadère“. „Mit dem wirklichen Indien“ habe dies nichts zu tun, protestierte der Schriftsteller Théophile Gautier – was ihn aber nicht daran hinderte, viele Gedichte über idealisierte Bajaderen zu schreiben, die beinahe alle ein Bühnenwerk inspiriert haben. Das berühmteste war das Ballett „Sakountala“, das 1858 an der damals „Kaiserlichen Oper von Paris“ uraufgeführt wurde. Der Choreograph war Lucien Petipa, der ältere Bruder von Marius, der auch mit von der Partie war. Denn alle Männer in der aus Marseille stammenden Familie Petipa waren Tänzer, und Marius (1818-1910) stand mit fünf schon auf der Opernbühne in Brüssel. Über New York (1839) und Madrid (1845) landete er schließlich 1847 in Sankt Petersburg, wo er einer der wichtigsten und einflussreichsten Choreographen aller Zeiten wurde. Leider kennen wir heute nur noch einen Bruchteil seiner über sechzig (!) großen Ballette. Das hat mit der Ballettwelt im Allgemeinen und auch mit den politischen Wirren in Russland zu tun.

Für jedes seiner neuen Ballette – mindestens eines pro Jahr – wählte Petipa ein exotisches Sujet. Nach Tulpen aus Haarlem, Wasserrosen aus China („Nénuphar“), einer Eisprinzessin vom Nordpol („La fille des neiges“), einer Zigeunerin aus Spanien („Zoraya“) folgte eine indische Tempeltänzerin: „La Bayadère“. Petipa musste alle Tänzer des Theaters beschäftigen, die ihre Rollen dann bis zu ihrem Tode weitertanzen durften. So gab es 250 Rollen (!) in dem ausführlichen Libretto (das heute noch erhalten ist). Die Musik schrieb der gebürtige Österreicher Ludwig Minkus (1826-1917), der ungefähr zeitgleich mit Petipa in Sankt Petersburg ankam und dort von erster Geige im Orchester zum Kapellmeister und dann zum Hofkomponisten aufstieg (bis er in dieser Funktion durch Tschaikowski abgelöst wurde). Vom Ballettkomponisten wurde damals erwartet, dass er zu jeder Nummer im Libretto eine Melodie schrieb, auf die man gut tanzen konnte – mehr nicht. Das erklärt, warum Tschaikowskis „Schwanensee“ bei seiner Uraufführung in Moskau 1877 ein totales Fiasko wurde. Denn die Choreographen und Tänzer fühlten sich durch den symphonischen Charakter der Musik überfordert und waren nicht im Stande, diese in Gruppenbewegungen umzusetzen. Sie fanden also keine andere Lösung, als hemmungslos zu streichen und das großangelegte Werk in kleine Tanz-Nummern zu zerstückeln. Genau zur gleichen Zeit choreographierte Petipa „La Bayadère“ in Sankt Petersburg und zeigte wie man symphonische Musik in Tanz umsetzt. Das Publikum, die Zarenfamilie und die internationalen Tanzkritiker waren begeistert. Leider gab es keine Kopien der Partitur (die Werke von Minkus wurden nicht gedruckt), und die einzige verlässliche Aufzeichnung des Werkes war die „Notation“ von Vladimir Stepanov (1866-1896), der mit einem selbst ausgedachten „Alphabet“ die Werke von Petipa aufschrieb. Doch in den Wirren der Russischen Revolution nahm der Mitarbeiter des Theaters, Nicholas Sergeyev (1876-1951), diese Unterlagen mit auf die Flucht, bis sie schließlich in der Universität von Harvard landeten, wo sie heute noch liegen. Das alles erklärt, warum „La Bayadère“ so wenig bekannt ist und beinahe ein Jahrhundert lang (fast) nur in Sankt Petersburg gespielt wurde: niemand anders hatte die Noten!

Rudolf Nurejew (1938-1993) hatte eine ganz besondere Beziehung zu „La Bayadère“. Es war das Ballett, mit dem er als junger Tänzer zum ersten Mal 1961 nach Paris kam. Es war sein erster internationaler Erfolg, der ihm das Selbstvertrauen gab, um den „größten Sprung seines Lebens“ zu wagen: den Sprung über den Eisernen Vorhang, mit dem er 1961 im Westen blieb. Für seine erste Tournee im Ausland präsentierte das damalige Kirov-Ballett aus Leningrad ein im Westen vollkommen unbekanntes Werk: den „Acte des ombres“ („Schattenakt“) aus „La Bayadère“. In diesem „grand pas classique“ für 24 (eigentlich 32 oder 48) Tänzerinnen erscheinen die Seelen der verstorbenen Tempeltänzerinnen dem Opium rauchenden Prinzen Solor auf den Höhen des Himalaja – ein typisches Motiv des romantischen Balletts, wie die „Willis“ in „Giselle“ oder die „Schwäne“ in „Schwanensee“. Die Rolle des Solor wurde ursprünglich durch den betagten „premier danseur“ der Truppe gemimt. Doch um der männlichen Partie mehr Gewicht zu geben, ließ Petipa es zu, dass ein jüngerer Kollege einige „Variationen“ einfügte, und so tanzte z.B. Nicolas Legat 1900 an dieser Stelle eine recht athletische Einlage aus dem Offenbach-Ballett „Papillon“. Rudolf Nurejew, der auf ausdrücklichen Wunsch der französischen Regierung diese Rolle 1961 in Paris tanzte, fügte an dieser Stelle noch die spektakulären Variationen aus dem Petipa-Ballett „Le Corsaire“ hinzu. Musikalisch, kunsthistorisch und dramaturgisch ist das alles etwas bedenklich, aber in der Ballett-Welt nimmt man es bis heute mit diesen „Einlagen“ nicht all zu genau – so wie man es bis vor circa vierzig Jahren in der Opernwelt auch nicht tat. Rudolf Nurejew erzielte einen Triumph, wurde über Nacht ein Weltstar und seine erste Arbeit als Choreograph war genau dieser „Acte des ombres“, den er 1963 für das Royal Ballet und Margot Fonteyn choreographierte. Er besaß zwar nur einen Klavierauszug des „Schattenaktes“, doch der englische Arrangeur John Lanchbery verstand diesen einigermaßen zu orchestrieren – und mit Musik scheint man es in der Ballettwelt auch nicht so genau zu nehmen.

Rudolf Nurejew machte sich einen Namen als Choreographen, der die großen Ballette von Petipa „zurück in den Westen“ brachte. Er fing an mit „Raymonda“ (1964 in London), „Schwanensee“ und „Don Quichotte“ (1964 und 1966 in Wien) und träumte von einer „Bayadère“ – doch nirgendwo konnte er eine Partitur bekommen. 1970 floh Natalia Makarowa auf einer Kirov-Tournee in den Westen und schaffte es, ungefähr die Hälfte der Bayadère-Partitur rauszuschmuggeln. Wieder sprang John Lanchbery in die Bresche und wurde die erste „vollständige“ Bayadère im Westen aufgeführt (1980 in New York, die über viele Umwege 1989 an der Scala landete). Inzwischen war Nurejew wieder kurz in Sankt Petersburg gewesen und schaffte es, im Archiv des Kirov die Partitur zu fotokopieren. Dass tat er jedoch so schnell, dass er nur den unteren Teil der Seiten kopierte – also auf jeder Seite das obere Drittel fehlte. Wieder sprang John Lanchbery ein – ohne dass darüber gesprochen wurde (die Programmhefte der Pariser Oper sind äußerst diskret in diesen Fragen), und ohne dass dies bis heute jemandem aufgefallen wäre oder stören würde. Da es für alle klar war, dass „La Bajadère“ Nurejews letzte Arbeit und wahrscheinlich sein künstlerisches Testament sein würde – er starb kurz nach der Première -, bekam er für dieses Ballett fast unbegrenzte Möglichkeiten. Petipa hatte bei der Uraufführung fünf Bühnenbildner in Dienst genommen (darunter ein gewisser Heinrich Wagner) – quasi einen für jeden der vier Akte. Ezio Frigerio – in Wien vor allem bekannt als Bühnenbildner von Giorgio Strehler – entwarf einen prächtigen indischen Palast, inspiriert durch den Taj Mahal. Im Gegensatz zu den üblichen Ballett-Bühnenbildern wurde der Palast nicht auf Prospekte gemalt, sondern gebaut – und wurde damit das wahrscheinlich teuerste Ballett-Bühnenbild in der Geschichte der Pariser Oper.

Beinahe alle im ursprünglichen Libretto von Petipa erwähnten Requisiten sind vorhanden, von der indischen Laute, zum toten Tiger bis hin zum 4 Meter hohen, „mit Schmuck behängten Elefanten“, mit dem Prinz Solor beim Rajah von Golkonda erscheint. Und noch viel mehr, denn Nurejew wollte zusätzlich noch einen zehn Meter hohen Elefanten, den man gerade mal 20 Sekunden sieht – und bekam den letzten Schrei-Anfall seines Leben, um diesen Elefanten noch durchzusetzen. So erklärt es sich, dass es in Paris bei drei statt vier Akten blieb (wie in vielen anderen Theatern auch). Denn für den letzten Akt, in dem der ganze Palast bei einem großen Hochzeitsgelage einstürzt, fehlte dann leider doch das Geld (so wie es mir der Bühnenbildner gestand). Aber das ist niemanden aufgefallen, denn die beinahe dreihundert orientalischen Kostüme von Franca Scuarciapino und die Beleuchtung von Vinicio Cheli sind so prächtig, dass niemand den Eindruck haben kann, dass hier vielleicht etwas fehlt.

Und die Geschichte funktioniert auch so. Petipa hatte kurz zuvor die Ballette für die Russische Erstaufführung der „Aida“ konzipiert, die man in der „Bajadere“ wiedererkennt (wie auch „Norma“ und „La Vestale“). Ein Prinz (Solor/Radamès) verliebt sich in eine arme Gefangene (Aida)/die keusche Tempeltänzerin (Nikiya). Doch er soll die Prinzessin Gamzatti /(Amneris) heiraten, die betrübt bemerkt, dass sein Herz einer anderen gehört. Der Oberpriester/Brahmane ist auch in Nikiya verliebt und ebenfalls eifersüchtig – also eine klassische Dreiecksbeziehung, so wie wir sie aus vielen Opern des 19. Jahrhunderts kennen. Die Geschichte endet damit, dass Nikiya gezwungen wird, auf der Verlobung Solors zu tanzen und dabei tot umfällt, er untröstlich ist, und sie sich beide als Seelen im Himalaja wiederfinden, um dort auf ewig vereint zu werden. Ein „Liebestod“ wie bei „Aida“ und „Norma“ – nur dieses Mal getanzt.

Die Rolle der Nikiya ist ähnlich schwer und lang, wie die der Odette/Odile aus „Schwanensee“ und wurde durch die allergrößten russischen Ballerinen verkörpert: Ekaterina Vazem, Anna Pawlowa, Tamara Karsawina und, zu Nurejews Zeiten, Ninel Kourgapkina und Natalia Makarowa. Von den vielleicht zehn Tänzerinnen, die wir in der Nurejew-Bajadere gesehen haben, die seit 1992 der Stern im Repertoire der Pariser Oper ist, hat Monique Loudières 1993 den größten Eindruck auf uns gemacht. Sie füllte die Rolle der Nikiya mit einer ganz einzigartigen Melancholie – wie anscheinend auch die Pawlowa – und war deswegen eines der Lieblingstänzerinnen von Nurejew. Die Première wurde 1992 getanzt durch Isabelle Guérin, einer eindrucksvollen Technikerin, danach durch Agnès Letestu, die 2006 übernahm und heute (offiziell im Ruhestand) für Nikiya immer noch an die Pariser Oper zurückkehrt. Jetzt erlebten wir die „étoileMyriam Ould-Braham, die wir mehr aus dem modernen Repertoire kennen. Ihr großes „Todessolo“ war wirklich ergreifend, doch den Rest des langen Abends wirkte sie vergleichsweise abwesend, auf ihre perfekte Technik konzentriert. Solor war die Lieblingsrolle von Nurejew – weil er dort so viel springen konnte. Man braucht also einen kräftigen „danseur noble“, und in dieser Hinsicht war Manuel Legris 1993 eine Ideal-Besetzung – lange bevor er nach Wien kam und dort jetzt seinen verehrten Meister in hohen Ehren hält. Einer der besten heutigen Solors in Paris ist wahrscheinlich Mathias Heymann. Wir sahen stattdessen den „premier danseurFrançois Alu, der diese Rolle tanzen durfte, weil er eine unglaubliche Sprungkraft hat. Er springt fast einen Meter höher als seine Kollegen, tanzte alle zugefügten Variationen im dritten Akt und auf der letzten Note sprang er aus dem Stand noch einmal in die Luft für einen „triple tour en l’air“, den er unter Beifallsstürmen auch noch einmal wiederholte. Auch für Prinzessin Gamzatti gab es keine „étoile“, sondern die junge Charline Giezendanner, die die technisch schwere Rolle wirklich glänzend meisterte, genauso gut wie bei der Uraufführung Elisabeth Platel – die jetzt die Ballett-Schule der Pariser Oper leitet.

So werden die Rollen von Generation zu Generation weitergegeben, und es ist ein Vergnügen, so viele junge Tänzer in die Fußtapfen ihrer älteren Kollegen treten zu sehen. Ein „einfaches Ensemblemitglied“ Bruno Bouché tanzte den Rajah von Golkonda und der kaum zwanzigjährige Antoine Kirscher die genauso wichtige Rolle des Fakir. Emmanuel Thibault ist seit Jahren der Publikumsliebling in der von Nurejew eingefügten Rolle der „Idole dorée“ („goldener Gott“), doch sein Applaus wurde ihm an diesem Abend durch einen kaum zehnjährigen Eleven der Ballett-Schule streitig gemacht, der als kleiner schwarzer Neger (einer der vielen im Programmheft leider nicht aufgeführten Rollen) mit einer solchen Wonne tanzte, dass ihm alle Herzen zuflogen. Im berühmten „Acte des ombres“ hielt der ganze Saal den Atem an. Denn wenn nur eine der 32 Tänzerinnen im berühmt-berüchtigten „Schattenakt“ ausrutscht, ist der ganze Abend hin. Petipa hat in diesem „grand pas classique“ das Äußerste von seinem „Corps de Ballet“ gefordert: Die Tänzerinnen kommen über eine Schräge mit einem schnellen Schritt auf die Bühne, bremsen mit einer „arabesque cambrée“ und beugen sich dabei so stark nach vorne, dass sie nur noch mit einem nach oben ausgestreckten Arm das Gleichgewicht halten können – während sie das rechte Bein genauso weit nach oben strecken. Und das beinahe zwanzig Minuten lang, vollkommen synchron alle miteinander. Natalia Makarowa erklärte, dass „westliche Ballerinen nicht die Kraft hätten“ um die Beine so weit zu heben und veränderte die Position in eine Arabeske mit waagerecht gestrecktem Bein. Doch Nurejew bestand auf der „arabesque cambrée“ und erklärte, dass es wahrscheinlich zehn Jahre dauern würde, bis man seine „Bayadère“ in Paris wirklich tanzen könne. 22 Jahre nach seinem Tod ist dies nun absolut der Fall. Wir waren begeistert von diesem „einfachen Repertoire-Abend“. Nicht von dem mittelmäßigen Orchestre Colonne unter der soliden Leitung von Fayçal Karoui – zu Nurejews Zeiten spielte an Ballett-Abenden noch das Orchester der Pariser Oper – sondern von den vielen jungen und hochbegabten Tänzern. Sie sind die Zukunft dieser „Bayadère“, die hoffentlich noch lange auf dem Spielplan bleiben und eines Tages auch einmal nach Wien kommen wird. 1998 brachte Patrice Bart von der Pariser Oper „La Bayadère“ zum ersten Mal nach Deutschland, an die Bayerische Staatsoper. 1999 rekonstruierte Vladimir Malakhov eine vieraktige Version an der Wiener Staatsoper, die er dann nach Berlin nahm an „sein“ Staatsballett. Und wann sehen wir einmal das vollständige Ballett, mit allen Akten, allen Rollen und der ganzen Musik? Hoffentlich bald!

Waldemar Kamer / Paris 31.12.2015

Bilder (c) Little Shao / Opera de Paris

 

 

Pina Bausch

NELKEN

Théâtre du Châtelet - 13.5.2015

Rote Rosen auf dem Grab dieser einzigartigen Choreographin

Pina Bausch ist gestorben, aber „ihre Kinder leben noch“ – so wie man es nun überall auf Programmzetteln lesen kann. Denn seit 2009 tourt das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ohne sie weiter durch die Welt und kommt auch weiterhin jedes Jahr im Mai/Juni nach Paris an das Théâtre de la Ville. Der inzwischen auch verstorbene Direktor des Theaters Gérard Violette (1937-2014) war einer der allerersten Direktoren, der schon 1976 das damals sehr umstrittene Genie von Pina Bausch erkannte und sie entscheidend gefördert hat, indem er sie ab 1985 jedes Jahr für zwei/drei Wochen nach Paris einlud. Auch wenn noch gar nicht feststand, was dann überhaupt gespielt werden würde! Auf der Spielzeitbrochüre stand nur „une nouvelle création de Pina Bausch“ – einige von ihren Balletten sind in Paris uraufgeführt worden – und innerhalb weniger Stunden waren alle Plätze ausverkauft. Nur die Abonnenten waren sich im Voraus ihres Platzes sicher und so schaffte Violette es, dank der vielen Abonnements, auch jedes Jahr neue und teilweise vollkommen unbekannte Künstler in Paris zu präsentieren. Aus Amerika kamen Merce Cunningham, Lucinda Childs, Trisha Brown und die inzwischen in Paris wohnende Carolyn Carlson (die am Théâtre de la Ville einige ihrer meist originellen Arbeiten schuf), aus Belgien ein ganzes Dutzend von jungen Choreographen, angeführt durch Anne-Teresa de Keersmaeker, aus Japan wieder ein Dutzend Künstler angeführt von Ushio Amagatsu und seine Kompanie Sankai Juku. Und alle schufen jedes Jahr wirklich Neues in Paris. Deswegen hat das Théâtre de la Ville – ursprünglich von Sarah Bernhardt als reines „Sprechtheater“ erbaut – bis heute ein wirklich einzigartiges Programm, in dem viele „Mischformen“ sich mühelos entfalten können wie das „Tanztheater“ von Pina Bausch (in dem auch gesprochen wird).

„Nelken“, 1982 am Schauspielhaus in Wuppertal uraufgeführt, wurde vor allem wegen seinem Bühnebild eines der bekanntesten Stücke von Pina Bausch. Peter Pabst pflanzte tausende von riesengroßen Plastiknelken auf die Bühne, angeregt durch die farbenfrohen Tulpenfelder in Holland (wie er es in dem schönen Film von Wim Wenders erzählt). Es wirkt so, als ob aus der braunen, rohen Erde des „Sacre du Printemps“ (1975) eine glückliche Blumenwiese geworden wäre, auf der sich mehrere gut angezogene Menschen (in eleganten Kostümen von Marion Cito) in komfortablen Sesseln niederlassen und an die Liebe denken. Wir hören Richard Tauber auf einer alte Aufnahme „Schön ist die Welt“ singen (aus der gleichnamigen Operette von Franz Lehar). Er gibt den Tänzern den Mut, um sich nach einem passenden Partner umzusehen. Und die Suche beginnt... im Publikum, wo einige elegante Damen und Herren diskret aufgefordert werden, eben den Saal mit den Tänzern zu verlassen. Ein Mann der nicht reden kann, bleibt alleine übrig. In Taubstummensprache träumt er – zusammen mit Billie Holiday auf einer alten Schellackplatte – von „The Man I love“...

Doch damit dies nicht zu kitschig gerät, wurde die rosa Nelkenwiese mit Stacheldraht umzäunt, vor dem Polizisten mit Wachhunden patrouillieren. Und gerade im Augenblick, wo die Tänzer ihre Anzüge und Krawatten ausgezogen haben und vergnüglich in Frauenkleidern wie Kaninchen durch die Nelkenwiese springen, erscheint ein Polizist und fragt: „ Papiere Bitte “ (in Paris nun: „ Vos papiers s’il vous plait “). Die Musik hört auf, das rosa Licht verschwindet und nach einer umständlichen Passkontrolle folgt ein nüchternes: „

Sie können weiter hüpfen“. Doch anscheinend genügte dies nicht, um die Idylle zu brechen. Bald nach der Uraufführung arbeitete Pina Bausch weiter an ihrer Choreographie und „Nelken“ ist deswegen das Stück, an dem sie noch am meisten geändert hat. So wurden vier „Stuntmen“ engagiert, die am Rande der glücklichen Wiese zwei Meter hohe Berge aus leeren Kartons aufbauen, auf die sie dann aus ungefähr zehn Meter Höhe springen. Sie springen auch wie schwarze Raaben gefährlich nah über die glücklichen Tänzer und fallen immer wieder unter einen Holztisch. Das waren ursprünglich – zumindest noch 1992 bei dem letzten Gastspiel von „Nelken“ im Théâtre de la Ville – sehr gefährliche Sprünge. Denn die vier Männer sprangen „aus dem Stand“ in die Luft (also ohne Anlauf), machten ein Salto und landeten mit ihrer rechten Schulter auf der scharfen Metallecke des Tisches. Sie brauchten nur einige Zentimeter falsch auf dem Tisch zu landen und sie hätten sich den Nacken gebrochen. Das Publikum hielt bei jedem Sprung voller Angst den Atem an... 

Auch wenn offiziell alles „genau so getanzt wird, wie vor dreißig Jahren“, hat der Abend Einiges an Spannung verloren. Liegt es an den weniger gefährlichen Stunts? Liegt es daran, dass „Nelken“ ausnahmsweise im gegenüberliegenden Théâtre du Châtelet gegeben wird? Denn anstatt über der Bühne zu sitzen, wie in Wuppertal (ursprünglich ein altes Kino) oder im Théatre de la Ville (zu einem großen Auditorium umgebaut), sitzen wir im Châtelet (ein altes Opernhaus mit Guckkastenbühne) zumindest im Parkett unter der Bühne und sehen hauptsächlich 50 cm hohe Nelken auf der Vorderbühne. So haben wir jetzt die patrouillierenden Schäferhunde auf der Hinterbühne einfach nicht gesehen. Die 23 Tänzer sind verständlicher Weise nicht mehr die gleichen als bei der Uraufführung 1982 und nur vier von ihnen waren im letzten „Nelken“-Gastspiel 1992 noch dabei. Es ist nicht mehr Lutz Förster, der von dem „Man I love“ träumt, sondern Scott Jennings (sehr gut). Und es ist nicht mehr der unvergessliche Dominique Mercy, der das Publikum fragt was es noch sehen will („eine Pirouette ?“, „ein grand jeté ?“ etc), sondern nun Fernando Suels Mendoza (etwas weniger überzeugend).

Doch es wäre unfair, die persönlichen Leistungen der Tänzer lange zu kommentieren, denn an ihnen hat es nicht gelegen, dass der Abend etwas lang wurde. Es scheint, alsob das Stück nun an seiner ursprünglichen Schärfe und Radikalität verliert, wenn man jedes Detail der Inszenierung lange „zelebriert“. Das ist bei anderen Stücken von Pina Bausch nicht so, da sie ganz genau auf eine bestimmte Musik geschrieben wurden und nicht bei einer Wiederaufnahme um etliche Minuten verlängert werden können. So war das Gastspiel vom „Sacre du Printemps“ im Juni 2013 im Théâtre des Champs-Elysées ganz wunderbar (siehe Merker 7/2013) und so wird es sicher noch viele überzeugende Gastspiele von anderen Stücken geben. Denn eines ist sicher: es lohnt sich immer wieder, um in die sehr originelle und besondere Welt der Pina Bausch ein zu tauchen!

Waldemar Kamer, Paris 14.5.2015

Bilder (c) Oliver Look  / Jochen Viehoff

Mehr Info auf der Homepage der Pina Bausch Foundation: www.pinabausch.org

 

 

BENJAMIN MILLEPIED

DAPHNIS ET CHLOÉ

Opéra de Paris / Opéra Bastille – 21.5.2014

Einstand mit großem Aufwand des neuen Ballettdirektors Benjamin Millepied 

Das Ballett der Pariser Oper kann sich mit Recht rühmen, die älteste Tanzkompanie Europas und die Wiege des klassischen Tanzes zu sein, denn sie wurde durch Ludwig den XIV. 1669 gegründet, der in seiner Jugend selbst ein begnadeter Tänzer war. Mit 14 tanzte der junge König die Rolle der „Sonne“ und ward nicht müde, seine Tänzer, wie er wo er nur konnte, tatkräftig zu unterstützen. Von Paris reisten die Choreographen Jean-Georges Noverre zu Gluck und Calzabigi nach Wien, August Bournonville nach Dänemark, Marius Petipa nach Sankt Petersburg und etablierten die Regeln des klassischen Tanzes in Europa. Das Pariser Ballett hat Jahrhunderte lang unter Bedingungen gearbeitet, von denen andere Kompanien nur träumen konnten. So wurde das Palais Garnier gerade wegen der Tanz-Probenräume 1875 das größte Opernhaus der Welt. Tänzer hatten eine gesellschaftliche und künstlerische Position, die sogar die größten Sänger in ihren Schatten stellte. Die fünf Solo-Tänzer in Wagners „Tannhäuser“ 1861 standen (fast) genau so groß auf dem Programmzettel wie die sechs Gesangs-Solisten – dabei traten die Tänzer doch nur wenige Minuten in dem Bacchanal auf. Auch noch heute wird den Ereignissen des Balletts in den französischen Medien allgemein mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als was auf der Opernbühne passiert. Als Rudolf Nurejew und Maurice Béjart sich wegen der Ernennung eines neuen Solo-Tänzers (eine „Etoile“, ein „Stern“) stritten, wurde dies lang und ausführlich in den Fernsehnachrichten besprochen. Es ist also hauptsächlich aus Platz- und Zeit-gründen, dass der Merker so wenig über das Pariser Opern-Ballett berichtet. Doch dieses Jahr steht ein großer Generationswechsel bevor. Das Ballett wurde im XX. Jahrhundert hauptsächlich durch klassische Choreographen geleitet, wie Serge Lifar (von 1930 bis 1958) und Rudolf Nurejew (offiziell 1983-1989). Nurejews Ballette (das letzte wenige Monate vor seinem Tod 1993) stehen bis heute weiter auf dem Spielplan und seine Nachfolgerin Brigitte Lefèvre hat die klassische Tradition ganz wunderbar gepflegt. Die Kompanie ist mit 154 festen Tänzern in Höchstform und dank der eigenen Ballettschule mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren eine der jüngsten Tanzkompanien der Welt. Brigitte Lefèvre, eine ehemalige Tänzerin und talentierte Organisatorin – sie hat während der großen Krisen von 1989-1994 zeitweilig das ganze Haus geleitet – hat die Kompanie auch dem modernen Tanz geöffnet. So wurden namhaften Choreographen eingeladen wie Pina Bausch, Maurice Béjart, Carolyn Carlson, Merce Cunningham, Nacho Duato, Mats Ek, William Forsythe, Jiri Kylian und John Neumeier. Die Pariser Oper ist das einzige Haus in der Welt, dem Pina Bausch ein Stück „geschenkt“ hat (sonst dürfen ihre Werke ja nur durch ihr eigenes „Tanztheater Wuppertal“ aufgeführt werden).

Nach 21 Jahren erfolgreicher Arbeit geht Frau Lefèvre diesen Herbst in den Ruhestand. Für ihre Nachfolge wurde einer der Solotänzer vorgesehen, der das Haus seit Kindesbeinen kennt und von ihr in die finanziellen Kniffe eingeweiht wurde. Denn das immer ausverkaufte Ballett finanziert de facto die anderen Sparten. Doch nun kommt alles anders als geplant. Denn der neue Intendant ab diesem Herbst, Stéphane Lissner, entschied sich für einen ganz anderen Kandidaten, den jungen Choreographen Benjamin Millepied. Millepied, 1977 in Bordeaux geboren, in Senegal und Lyon aufgewachsen, tanzte zwölf Jahre am New York City Ballet, das man in seiner choreographischen Handschrift wiedererkennt. Er ist in vieler Hinsicht amerikanisch geprägt, gründete 2010 eine eigene Tanzkompanie, „LA Dance Project“, und heiratete die Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman, die er auf den Dreharbeiten des Films „Black Swan“ kennen lernte (wo er den Prinz tanzte). Für seinen Einstand organisierte Frau Lefèvre einen glänzenden Ballett-Abend: erst „Le Palais de Cristal“ von George Balanchine und dann „Daphnis et Chloé“ von Ravel, mit einer neuen Choreographie von Benjamin Millepied. Beide Produktionen wurden besonders gut versorgt, denn der Musikdirektor Philippe Jordan dirigierte höchstpersönlich ein Ballett. Leider ist das nicht immer der Fall und werden die Ballettabende – wie an anderen Häusern – oft durch B-Orchester begleitet. Und sogar in „Orpheus und Euridyke“ von Pina Bausch (am gleichen Abend in der Garnier-Oper gespielt) kann man sich über die nicht hervorragende Sängerbesetzung wundern. Jetzt war musikalisch alles auf höchstem Niveau. Auch optisch. George Balanchine – kurz nach dem Weltkrieg Interim-Direktor des Balletts – hat „Le Palais de Cristal“ 1947 für die Pariser Oper entworfen (mit einer Musik von Georges Bizet). Die ursprünglichen Kostüme waren von der Surrealistin Leonor Fini (1908-1996), doch für diese Wiederaufnahme wurde der Modeschöpfer und hochbegabte Kostümbildner Christian Lacroix (1951) gebeten, neue Kostüme zu entwerfen. Das neo-klassische Ballett wurde angeführt durch die technisch besten Tänzer des Hauses. Mathieu Ganio wurden seine „plastique“ und seine atemberaubende „facilité“ in die Wiege gelegt, denn seine beiden Eltern waren große Tänzer. Amandine Albisson ist der neuste „Stern“ der Kompanie – sie wurde am 5. März 2014 zur „Etoile“ ernannt – und zeigte sich dieser hohen Auszeichnung vollkommen würdig. „Ein charmantes Bonbon“, wie es die Neue Zürcher Zeitung formulierte – die „Hauptspeise“ war der zweite Teil des Abends.

„Daphnis et Chloé“ war ein Kompositionsauftrag von Serge Diaghilev an für seine „Ballets Russes“ und wurde am 8. Juni 1912 in Paris uraufgeführt, mit Vaslav Nijinski und Tamara Karsavina in den Hauptrollen. Die Geschichte des Hirtenknaben Daphnis, der sich in die Nymphe Chloé verliebt, stammt aus dem Griechischen Altertum, das viele Choreographen der Belle Epoque fasziniert hat. Allen voran Isadora Duncan, die auf elegische Art versuchte die griechischen Tänze zu rekonstruieren. Doch zwei Wochen vor der Uraufführung von „Daphnis et Chloé“ sorgte Vaslav Nijinski mit seinem sinnlichen Ballett „L’Après-midi d’un faune“ für einen solchen Skandal, der „Daphnis et Chloé“ mit seiner vergleichsweise „unschuldigen“ Choreographie von Michel Fokine total in den Schatten stellte. „Daphnis“ wurde 1921 durch Fokine in das Repertoire der Pariser Oper aufgenommen und bekam 1959 eine neue Ausstattung von Marc Chagall, als dieser die Deckengemälde des Palais Garnier neu gestalten durfte. Jetzt bekam Daniel Buren den ehrenvollen Auftrag das Ballett neu einzukleiden. Buren (1938) ist heute ungefähr was Chagall vor fünfzig Jahren war: der angesehene, offizielle, zeitgenössische Künstler, der Frankreich in In- und Ausland repräsentiert. Sein erster Auftrag für die Pariser Oper war ein „Coup“, der für ein großes Interesse der Medien sorgte. Das Resultat war außerordentlich fotogen: aus dem Bühnenhimmel fuhren verschiedene geometrische Formen in changierenden Farben nach unten, die den Tänzern allen erdenklichen Raum ließen. Alles schön und gut, aber einen Bezug zum Bühnengeschehen, zur Geschichte oder zur Musik haben wir nicht erkennen können. Ähnliches gilt auch für die Choreographie von Benjamin Millepied: sauber und gekonnt, irgendwo zwischen seinen Lehrmeistern Balanchine und Robbins, aber ohne eine persönliche Handschrift. In einem Interview vor der Première meinte Millepied, er wolle nicht die Geschichte nacherzählen, um nicht „in die Pantomime zu verfallen“. So verdoppelte er das Paar Daphnis und Chloé mit einem anderen, Dorcon und Lycénion, die alle vier durch einen bösen Pan, Bryaxis, verwirrt wurden. Die Pärchen (und alle Guten) trugen einfache weiße Kostüme von Holly Hynes, Pan (und alle Bösen) hatten dagegen schwarze Kostüme. Doch zu einem Dialog zwischen Gut und Böse kam es nicht, alles blieb offen und irgendwie leer. Die einflussreiche Tageszeitung „Le Monde“ urteilte mild: „un très joli divertissement“ („ein angenehmer Zeitvertreib“).

Zum Glück bekam Millepied die besten Tänzer der Kompanie, die – wie er es selbst gestand – seine Ansätze „wunderbar weiter entwickelten“ und, soweit möglich, ein Rollenprofil entwickelten. Hervé Moreau ist ein Ausnahmetänzer. Wer ihn ein Mal in Neumeiers „Dritten Symphonie“ (von Mahler) gesehen hat, wird ihn nie mehr vergessen. Er hat eine eigene Aura, eine eigene Melancholie, die er in alle seine Rollen mitnimmt. Er war als Daphnis das Zentrum des Abends. Aurélie Dupond hatte es als Chloé nicht leicht, da sie offenbar mehr die Vision einer jungen Nymphe darstellen sollte als die reale Frau die sie ist. Seit dem „Abschied“ (offizielle Pensionierung) von Agnès Letestu im Oktober 2013 ist sie die inoffizielle „Prima Ballerina“ der Kompanie und ihr wollte Millepied diese Rolle widmen, bevor sie nächstes Jahr leider auch gehen muss (mit 40/42 Jahren erlischt schon ein Stern am Pariser Balletthimmel). François Alu konnte als „Böser Pan“ Bryaxis eine große Energie entwickeln und viele Karten ausspielen. Mit dem anderen „premier danseur“ Alessio Carbone bekam er den größten Applaus nach den beiden Titelrollen und die Zeit rückt immer näher dass er auch eines Tages ein „Etoile“ sein wird.

Über die Leistung von Philippe Jordan und dem Chor und Orchester der Pariser Oper können wir leider nichts Genaueres berichten, denn konzentriertes Zuhören war an diesem Abend nicht möglich. Mindestens vier Minister saßen mit Gefolge im Parkett und haben den ganzen Abend auf ihren Handys Mails verschickt und mit ihren Nachbarn geredet, als ob sie im Büro oder zu Hause vor dem Fernseher säßen. Doch am 18. und 19. Juni tritt das Orchester zum ersten Mal in seiner langen Geschichte im Wiener Musikverein auf und wird Philippe Jordan die 1. Symphonie von Bizet und „Daphnis et Chloé“ von Ravel noch einmal dirigieren. Und in Wien wird man die Musik richtig hören können – und die Nymphen vor seinem geistigen Auge tanzen sehen.

Waldemar Kamer (Paris) 22.5.2015

Bilder (c) Agathe Poupeney / Opera de Paris

Wiederaufnahme als Konzert im Wiener Musikverein : www.musikverein.at

 

 

Vier Mal (!)

SACRE DU PRINTEMPS

zum Hundertjährigen Jubiläum des Théâtre des Champs-Elysées

31.5. – 16.6.2013

Vaslav Nijinsky + Sasha Waltz + Pina Bausch + Sagar Forniés

Um die Feierlichkeiten für den hundertsten Geburtstag des Théâtre des Champs-Elysées vorzubereiten, hat die Chefdramaturgin des Hauses, Nathalie Sergent, wörtlich mehrere Jahre in alten Kisten gewühlt. Denn während die Bücher über die Opéra de Paris ganze Schränke füllen, hat es noch nie ein Buch über das jüngste der vier Pariser Opernhäuser gegeben (wenn man die Opéra Bastille als zweite Spielstätte der alten Oper nicht mitzählt). Die jüngste Oper der Stadt hat auch die meist bewegte Geschichte, denn sie ging öfters Pleite, bis sie 1922 durch einen amerikanischen Millionär als Geschenk für die Opernsängerin Ganna Walska gekauft wurde. Die bildschöne und energische Frau leitete mit ihm, ihrem vierten Ehemann (und mit den zwei folgenden), fast fünfzig Jahre die Geschicke des Theaters und wurde danach vollkommen vergessen.

So wie so vieles vergessen wurde, denn in diesem Theater, wo es dauernd drunter und drüber ging, gab es für Rückblicke keine Zeit. Doch für das hundertjährige Jubiläum hat Nathalie Sergent mit einem dutzend Autoren ein fantastisches Buch zusammengestellt: 100 Jahre in 660 Seiten, 650 Abbildungen (oft zum allerersten Mal gezeigt), gute 3 Kilo schwer, mit mehr als tausend Geschichten für den Opern- und Musikfreund (Verlhac Verlag, 89 €). Zu den Autoren gehört auch Dominique Meyer, elf Jahre Direktor des Hauses, bevor er an die Staatsoper wechselte, der über die vielen Gastspiele der Wiener Staatsoper berichtet. Sein Nachfolger, Michel Franck, hat nun die ehrenvolle aber nicht leichte Aufgabe, dieses Jubiläum zu organisieren. Er entschied sich für einen akribischen Rückblick auf die erste Saison 1913, und alle Programmhefte der jetzigen Spielzeit sind gefüllt mit den wundervollen Dokumenten, die man auf dem Dachboden fand. Franck versucht, 2013 genau so viel Wagemut zu zeigen wie der Gründer vor hundert Jahren, Gabriel Astruc. Astruc eröffnete 1913 ein resolut neues Theater mit einer Kombination von „französischem Geschmack, englischem Komfort und deutscher Technik“.

Doch hinter dem kostbaren Marmor, den Skulpturen von Bourdelle, den Fresken von Vuillard und den Kristallleuchtern von Lalique verbarg sich die erste, damals total revolutionäre Theaterarchitektur in Beton. Genau so revolutionär war auch die erste Spielzeit, die am 31 März 1913 mit der Oper Benvenuto Cellini von Berlioz eröffnet wurde (seit der katastrophalen Uraufführung in 1838 nie mehr in Frankreich gespielt) und am 6. November mit der französischen Uraufführung von Boris Godunow endete. Astruc ging schon nach sechs Monaten Pleite, hatte jedoch in der kurzen Zeit internationale Musik- und Tanzgeschichte geschrieben, ein paar wichtige Stücke uraufgeführt (wie die Oper Penelope von Fauré) und für einen der gröten künstlerischen Skandale des XX. Jahrhunderts gesorgt: die Uraufführung von Stravinskys Sacre du Printemps in der „barbarischen Choreographie“ von Vaslav Nijinsky. Genau hundert Jahre später, am 29. Mai, wurde der Sacre du Printemps noch einmal gegeben. Aber jetzt gleich zwei Mal: in der liebevoll rekonstruierten Fassung von 1913 und einer neuen Fassung von Sasha Waltz. Der Abend wurde von ARTE ausgestrahlt und war auch – eine kleine Revolution in Paris – auf einem groen Bildschirm auf dem Rathausplatz zu sehen. Der wilde Sacre wurde danach noch in zwei anderen Choreographien gezeigt und auch noch durch drei andere Dirigenten & Orchester gespielt. So war er wörtlich „die Krönung“ (le sacre) der Jubiläumsfeierlichkeiten und sorgte für einen Andrang und eine internationale Aufmerksamkeit, die das Théâtre des Champs-Elysées seit seiner Eröffnung nicht mehr gekannt hat.

 

LE SACRE DU PRINTEMPS

Vaslav Nijinsky am 31.5.

Die ursprüngliche Choreographie des Sacre wurde 1913 nur fünf Mal in Paris (und drei Mal in London) getanzt – und danach nie mehr. Ab 1970 haben Millicent Hodson und Kenneth Archer in mühsamster Recherchearbeit die Produktion rekonstruiert, mit Hilfe von einigen über die Welt verstreuten Dokumenten (die im obengenannten Buch erläutert werden) und der damals fast neunzigjährigen Marie Rambert, 1913 die Assistentin von Nijinsky in Paris. Seit 1987 tourt das kalifornische Jeoffrey Ballet mit dem rekonstruierten Sacre durch die Welt und sorgte für eine wirkliche Renaissance der Ballets Russes von Serge Diaghilev, die seitdem an vielen großen Opernhäusern wieder gespielt werden.

Der Sacre von Nijinsky steht seit 1991 auf dem Spielplan der Pariser Oper und wird seit 2003 am Mariinsky in St Petersburg gegeben – zuletzt noch bei der Einweihung des neuen Mariinsky II am 3. Mai. In den letzten Jahren tauchte auch noch das Bühnenbild des zweiten Aktes auf, voller Totenköpfe (das man jedoch öfters auslässt). Igor Strawinski beschrieb sein Stück als „eine heidnische Feier: Alte Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“ Das hat Vaslav Nijinsky mit archaischen Tänzen ausgedrückt, die jeden klassischen Tänzer in Verlegenheit bringen. Denn anstatt gerade zu stehen, soll er sich krümmen und auf den Boden schauen und seine Füße nach innen setzen („en dedans“), was jedes normale Gehen oder Springen fast unmöglich macht.

Und das alles zu einer Musik, dem sogar ein professioneller Musiker schwer folgen kann. Dem Jeoffrey Ballet ist das 1990 auf dieser gleichen Bühne so gut gelungen, dass es fast eine Weltsensation war. Für das Ballett des Mariinsky ist es inzwischen eine Routine geworden und der Vorstellung fehlte leider der letzte Schliff – was sicher auch daran lag, dass sich der Dirigent noch auf der Generalprobe eifrig mit seinem Orchester beschäftigte und dem Ballet keine Zeit mehr ließ für eine Stellprobe. Valery Gergiev und das Orchester des Mariinsky waren in Hochform und spielten den Sacre so, dass man hörte, dass er in Russland komponiert worden ist: mit Verve, mit Kraft und mit Melancholie. Gergiev peitschte seine Truppen an, dass man sie bei diesem Opfertanz wirklich stöhnen hörte. „Ich war ein bisschen zu brutal“ meinte er stolz dazu in der Pause. Danach gönnte er der Choreographie von Sasha Waltz, mit genau der gleichen Musik, ganze fünf Minuten mehr...

Bilder (c) Vincent Pontet / Wikispectacle

 

 

LE SACRE DU PRINTEMPS

Sasha Waltz 31.5. + Pina Bausch 6.6.

Seit der Uraufführung vor hundert Jahren ist der Sacre mindestens durch 180 Choreographen (!) neu bearbeitet worden, von Mary Wigman bis zum jungen französischen Choreographen Thierry Thieû Niang, der letzten September eine sehr berührende Fassung zeigte mit 70-90 jährigen (!) Tänzern. Die meist bekannten und meist gespielten Sacres sind die von Maurice Béjart (Brüssel, 1959) und Pina Bausch (Wuppertal, 1975). Der Sacre von Béjart wurde schon öfters am Théâtre des Champs-Elysées gespielt, der Sacre von Pina Bausch wurde nun zum ersten Mal eingeladen – und hat auch seit dem Tod der Choreographin wirklich nichts von seiner unglaublichen Kraft und Animalität verloren. Für Sasha Waltz war es – wie sie es im ARTE-Interview erklärte – nicht leicht aus dem übergroßen Schatten von Pina Bausch herauszutreten, deren Sacre für sie „ein Meilenstein in der Geschichte des Tanzes“ sei. Das ist ihr jedoch gut gelungen, hauptsächlich wegen ihres guten Verständnisses von Musik (sie hat ja viel mit zeitgenössischen Komponisten gearbeitet). Ihre Choreographie ist ungemein musikalisch, aber nicht illustrativ.

Ihr Ansatz ist neu, indem sie sich in dem Bühnenbild von Pia Maier und der Beleuchtung von Thilo Reuther ganz von dem „Frühling“ von Nijinsky verabschiedet und auch von dem bei Pina Bausch so präsenten Element „Erde“. Ihr Sacre spielt ohne jegliches Grün, im Winter, in einem postindustriellen Zeitalter, auf einem alten Kohlenhaufen, in den ganz langsam ein goldener Speer eindringt. Der Natur wird nichts geopfert, sie wird verletzt, vielleicht sogar vergewaltigt. Das Opfer ist auch nicht mehr eine junge Frau, sondern unsere Gesellschaft, Männer, Frauen und Kinder. Das Ballet des Mariinsky tanzt dies alles so wie wir es noch nie gesehen haben – fulminant und sehr engagiert. Die Uraufführung war ein Riesenerfolg und wird sicher noch lange an vielen Orten gezeigt werden (mit der Kompanie Sasha Waltz & Guests). Die nächsten Daten sind schon angekündigt: an der Brüsseler Oper im September, an der Berliner Staatsoper im Oktober und in Luxemburg im Januar 2014.  

Bilder (c) Vincent Pontet / Wikispectacle

 

WAGNER & STRAVINSKI

Bebildertes Konzert 13.6.

Das Orchestre National de France gehört zu den Miteigentümern des Théâtre des Champs-Elysées (ihm gehören ein Drittel der Aktien), und sein jetziger Chefdirigent Daniele Gatti entwarf ein interessantes „Doppel-Jubiläumskonzert“ (200 Jahre Wagner & 100 Jahre Sacre du Printemps). Er wies darauf hin, dass bei der ersten Wiedereröffnung des Theaters 1914, die Boston Opera Company Wagner zum ersten Mal in Paris auf Deutsch spielte, unter anderem Parsifal (der erst vierzig Jahre später an der Opéra de Paris in Originalsprache gegeben wurde). Gatti, der letztes Jahr am Théâtre des Champs-Elysées einen unvergesslichen Parsifal auswendig (!) dirigierte, gehört sicherlich zu den besten Wagner-Dirigenten in Paris. Sein Wagner ist – zumindest mit diesem Orchester – sehr französisch und hätte kaum entgegengesetzter sein können als das Wagner-Jubiläums-Konzert vor drei Wochen am selben Ort mit Christian Thielemann und der Dresdener Staatskapelle (siehe Merker 6/2013). Das Programm war vergleichbar: Wagner-Ouvertüren/Vorspiele (Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Meistersinger) und danach ein Stück aus dem XX. Jahrhundert (der Sacre). Doch der Orchesterton war ein völlig anderer: nach dem vollen, „deutschen“, mit prominenten Streichern und Blechbläsern, folgte ein schmaler, „französischer“ Ton, viel filigraner, durchsichtiger und einen Hauch intellektueller. Leider konnte man nicht alle Feinheiten hören, denn ähnlich wie bei der Eröffnung des Theaters 1913, spielte das Publikum eine prominente Rolle. Doch 2013 passierte etwas, was 1913 undenkbar war: der Dirigent unterbrach die Vorstellung und meinte, bei so einem Lärm könne er nicht (auswendig) dirigieren. Er donnerte laut auf mit dem Pilgerchor der Tannhäuser-Ouvertüre (um Ruhe im Saal zu bekommen), das Lohengrin-Vorspiel war wunderbar filigran, doch im Tristanakkord läutete ein Handy (mit dem Walkürenritt!) – und alle Konzentration war hin. Nach der Pause folgte ein Sacre du Printemps der anders klang als alle vorherigen des Jubiläums. Der russischen Inbrunst von Valery Gergiev setzte Gatti eine analytische Lesart gegenüber, ganz ähnlich der berühmten Aufnahme von Pierre Boulez, 1963 im gleichen Theater mit dem gleichen Orchester. Der Sacre sah auch ganz anders aus, denn man hatte den spanischen Zeichner Sagar Forniés gebeten, ihn zu bebildern. So lief also während der Vorstellung auf einer Riesenleinwand hinter dem Orchester ein Zeichentrickfilm (!). Vor unseren Augen entrollte sich eine nie endende Landschaft: erst der Mond mit nur Steinen, eine Unterwasserlandschaft und am Ende ein Vulkan mit zu der Musik passenden Eruptionen. Im zweiten Teil, von Stravinsky „le grand sacrifice“ genannt, folgten wir den Spuren des Menschen auf Erden: von Stonehenge und der Osterinsel, über Persepolis und die Akropolis, bis hin zu der Sphinx und der Venus von Milo. Paris, der Eiffelturm und das Théâtre des Champs-Elysées fehlten auch nicht, und die lange Reise endete schließlich auf einer Müllhalde. Der Abend wurde wie vor hundert Jahren mit lauten Buhrufen beschlossen – worüber sich das Theater sicher gefreut hat. Denn ein kleiner Skandal ist in Paris immer „ein großer Abend“.

Waldemar Kamer / Paris 14.6.2013

 

                                                                                                                  

 

 

 

 

 

DER OPERNFREUND  | opera@e.mail.de