DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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DIE ZAUBERFLÖTE

23.10.2021

 

Gut einen Monat nach der Uraufführung schrieb Nikolaus Graf von Zinzendorf nach einem Vorstellungsbesuch der ZAUBERFLÖTE in sein Tagebuch: "Die Musik und die Dekorationen sind hübsch, der Rest eine unglaubliche Farce." Damit traf er den wunden Punkt des Werks, welches sich nicht wirklich zwischen schwankhaftem Vorstadttheater, von freimaurerischem und patriarchal-autoritärem Gedankengut geprägtem Mysterienspiel und von Theatermaschinerie unterstützter Märchenerzählung entscheiden kann - und so für die Regisseur*innen eine gewaltige Herausforderung darstellt.

 

 

In der Neuproduktion des Theaters St.Gallen hat man den Blick auf Mozarts Meisterwerk gemäss dem Spielzeitmotto #herstory Frauen überlassen, der Dirigentin Katharina Müllner, der Regisseurin Guta Rau und der Bühnenbildnerin Marlies Pfeifer. Guta Rau schien es vor allem darum zu gehen, die vordergründig so hehre Welt rund um Sarastros Sonnenreich zu hinterfragen. Sie stellt (auch mit Hilfe der fantasievollen, knalligen Kostüme von Claudio Pohle) die Sekte der Isis- und Osiris-Anhänger bloss, lässt sie als matronenhaft kostümierte Sonderlinge auftreten, denen ihr Erscheinungsbild wichtiger ist als aufklärerische Grundsätze, welche innerhalb der patriarchalischen, von Hierarchie und Terror geprägten Strukturen nur als Lippenbekenntnisse erscheinen. Gold und Glitzer, Rot und Gelb prägen die Kostüme, welche wie schwere Panzer ihre Körper umhüllen - eine Art katholischer Tuntenbarock. So erstaunt es nicht, dass in Guta Raus Inszenierung am Ende die Königin der Nacht sich das Sonnensymbol zurückerobert, die Dekadenz der Männerherrschaft ausgedient hat. Die Priester verlieren ihre Roben, darunter wird das Nachtblau der Kostüme der Drei Damen sichtbar, wo hingegen die Drei Damen und die Königin der Nacht nun die operettenhaften Militärmützen tragen, welche vorher Sarastro vorbehalten waren. Immerhin deuten die Regie und die Kostümdramaturgie damit an, dass die Welt mit dem Matriarchat auch nicht eine bessere (humanere) werden wird. Schikaneders - zugegebenermassen etwas betuliche Dialoge - wurden für diese St.Galler ZAUBERFLÖTE neu geschrieben.

 

 

Political Correctness wird nun gross geschrieben (der "Mohr" Monostatos ist kein hässlicher Schwarzer mehr, sondern bloss noch ein schräger Vogel), auf gendergerechte Sprache wird geachtet, Papageno ist multisexuell, von "Mann und Weib und Mann und Mann und Weib und Weib" wird im berühmten Duett Papageno-Pamina gesungen. Einige der neugefassten Dialoge sind aber bei weitem nicht besser als Schikaneders Libretto, ja wirken noch dümmlicher und betulicher als dieses. Auch der übergriffige Monostatos erhält am Ende eine Partnerin, nämlich Monostata (stumme Rolle, gespielt von Christina Blaschke), die uns während der Ouvertüre als Schwester Paminas vorgestellt worden war. Dass das Publikum dann im Finale II mittels eines Schriftzugs auf dem Gazevorhang gefragt wurde "Erinnern Sie sich noch an Monostata?" nahm man eher konsterniert als Beleidigung des eigenen Kurzzeitgedächtnisses wahr. Aber das war wohl lustig gemeint, wie so vieles in dieser Inszenierung, das eher anbiedernd (Olma-Bratwurst und Biberli für Papageno, nach den wiederholten "Auf Wiedersehen"-Gesängen wird noch "Tschüss" gerufen und auch das Wort "Cool" wird mehrmals verwendet) als erheiternd rüberkam. Während der Ouvertüre erfuhr man durch Slapstick artiges Spiel hinter dem Gazevorhang die Vorgeschichte, auf den Vorhang wurden wie zur dazu passenden Stummfilmzeit flimmernde Texte und (raffinierte!) Strichzeichnungen von Dietgard Brandenburg projiziert. Diese waren überaus kunstvoll gestaltet und ersetzten so auf überzeugende Art die fehlende Theatermaschinerie.

 

 

Herrlich z.B. wie aus einer kleinen Pflanze das Ungeheur entstand, welches Tamino im ersten Bild bedrohte, oder aus den Portalen des Weisheitstempels die Tierwelt unter den Klängen von Taminos Flöte Gestalt annahm. Andererseits gab es in der Inszenierung und der Personenführung auch einiges, was ziemlich verärgerte und durch ständige Replikation ermüdete. So hinterliessen die Disco-Verrenkungen Papagenos zu den Koloraturen der Königin der Nacht einen schalen Nachgeschmack. Solche Ablenkungen lassen auf mangelnden Respekt gegenüber der Sängerin/dem Sänger der Arie und der Musik im Allgemeinen schliessen. Konterkarierung ist ab und an ein durchaus legitimes Stilmittel, Parodie passt hier definitiv nicht. Einige Umstellungen im Ablauf der Musiknummern und das Einfügen von Pausen innerhalb einer Arie zugunsten eines kleinen Gags führten kaum zu tieferen Einblicken in das Wesen des Werks. Doch persönliche Befindlichkeiten mal beiseite gelassen: Der Applaus des Premierenpublikums war ungetrübt enthusiastisch. Rühmen kann man die Bühnengestaltung von Marlies Pfeifer: Verschiedene Treppen, einige liegende Quader, alles in Schwarz mit weissen Kanten und eine schräg verlaufende Rampe, auf der Leuchtdioden Auftritte passend erhellten, mal einen Sternenteppich für die Königin der Nacht ausbreiteten, oder violette Herzchen für Verliebte vorbeiflimmern liessen, mit Rot oder Blau Feuer- und Wasserprüfungen animierten.

 

Agiert wurde auf der Bühne mit grossartiger Lust am Spiel, zeitweise schien es, dass die Darsteller auf der Bühne mehr Spass hatten, als die Zuschauer im Saal. Auf die Einblendung von Übertiteln wurde verzichtet, obwohl die Textverständlichkeit mehrheitlich problematisch war. Durch die starke Fixierung auf die Figur des Papageno (den Äneas Humm mit wendigem, wohlklingendem Bariton gestaltete und als grosser Sympathieträger beim Publikum entsprechend punkten konnte), wurde das "hohe" Paar Tamino-Pamina leider etwas aus dem Fokus gerückt. Vuvu Mpofu (eben war sie noch die wunderbare Bess in BREAKING THE WAVES) verlieh der Pamina einfühlsame Pianotöne, liess die anrührende Melodik herrlich blühen (vielleicht hätte sie in der g-Moll Arie noch etwas mehr Legato einsetzen können). Pavel Kolgatin (im Kilt) sang einen stimmschönen Tamino. Mit sonorer Bassstimme steckte Yorck Felix Speer als Sarastro die priesterliche Sphäre ab, mit markigen, sauber und sicher gesetzten Staccati und Spitzentönen verblüffte Antonina Vesenina als berechnende Königin der Nacht. Libby Sokolowski vermochte als Papagena sehr für sich einzunehmen. Die Drei Damen (Tatjana Schneider, Jennifer Panara und Sara Jo Benoot) liessen ihre unterschiedlich timbrierten Stimmen zu perfekten Harmonien verschmelzen. Die drei Insekten (drei Knaben, wobei hier zwei Mädchen und ein Knabe sangen: Liv-Maleen Nagel, Lorin Rütsche und Tessa Güssow) eroberten durch ihr kindliches Gezänk und die Reinheit des Gesangs die Herzen des Publikums. Der von Riccardo Botta ganz wunderbar gestaltete Monostatos überzeugte genauso wie die schön gerundete Stimme von Kristján Johannesson als Sprecher (diese wichtige, musikalisch weit in die Zukunft weisende Szene wurde inszenatorisch etwas verschenkt). Er sang auch den Zweiten Geharnischten, zusammen mit der Stimme des Ersten Geharnischten von Christoph Sokolowski entfaltete sich in der kurzen Szene eine magische Wirkung. Prägnant intonierten der Chor des Theaters St.Gallen und der Opernchor St.Gallen die Isis-Gesänge und die Finali (Einstudierung: Franz Obermair). Etwas schwieriger ist die Leistung der Dirigentin Katharina Müllner und des Sinfonieorchesters St.Gallen einzuschätzen: Während der Ouvertüre war man vom Slapstick auf der Bühne leider etwas vom Klangerlebnis der wunderschönen, festlichen Ouvertüre abgelenkt - deshalb finde ich "bebilderte" Ouvertüren meist fehl am Platz. Im weiteren Verlauf des Abends erklang die Musik aus dem sehr tief gelegten Graben eher spröde und dünn, was bestimmt an der in dieser Beziehung in den hinteren Reihen etwas ungünstigen Akustik des UM!BAUs liegt. Trotzdem nahm man wunderschön gepielte Phrasen der Holzbläser war und erfreute sich an den frischen Tempi.
 

Fazit: Man hat versucht, die ZAUBERFLÖTE als gesellschaftspolitisch korrektes, sich textlich an ein junges Publikum anbiederndes Singspiel auf die Bühne zu bringen. Dem Publikum schien es mehrheitlich gefallen zu haben und somit hat man die Ziele einer "Oper für die ganze Familie" und einer feministischen Hinterfragung des Werks erreicht. Theater soll fürs Publikum gemacht werden, nicht für Beckmesser ;-)).

 

Kaspar Sannemann 25.10.2921

 

Copyrights aller Bilder: Edyta Dufaj, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

 
 

BREAKING THE WAVES

 

Oper | Musik: Missy Mazzoli | Libretto: Royce Vavrek, nach dem gleichnamigen Film von Lars von Trier | Uraufführung: 22.09.2016 in Philadelphia

 

Das kommt wahrlich selten vor, dass man nach der Aufführung einer Oper eines zeitgenössischen Komponisten/einer zeitgenössischen Komponistin denkt: WOW, das möchte ich gerne wieder sehen/hören. Meistens legt man ja "moderne" Werke mit der Kennzeichnung "interessant" ad acta und nur ganz wenige Opern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben es wirklich ins erweiterte Standardrepertoire geschafft. Doch anlässlich der Musiktheater-Saisoneröffnung in St.Gallen hat sich genau dieses "Wunder" eingestellt. Die Oper BREAKING THE WAVES der amerikanischen Komponistin Missy Mazzoli gehört definitiv ins erweiterte Standardrepertoire, denn sie ist weit mehr als bloss "interessant": Eine packende, vorwärtsdrängende Handlung, angereichert mit einer wunderbaren, atmosphärisch dichten Musik, Kantilenen, die man auch als solche bezeichnen kann (und nicht wie so häufig im zeitgenössischen Musiktheater einfach übermässige Intervalle, welche hysterisch herausgebrüllt werden müssen). machen dieses Werk zu einem grossartigen Musiktheater-Ereignis. Missy Mazzoli scheut sich zum Glück nicht, die traditionellen Formen der Oper zu benutzen, die Hauptfigur (Bess) hat eine regelrechte Auftrittsarie (His name is Jan), im weiteren Verlauf erklingen Duette, Quartette (Concertati), düstere Männerchöre über die sich Bess' Stimme mit wunderbarer Strahlkraft schwingt. Die Partitur von Missy Mazzoli ist für ein relativ kleines Orchester geschrieben, sehr luzide instrumentiert, kann aber auch Kraft entfalten. Tonale Zentren sind da (sehr wichtig für die Zuhörer*innen), damit man den Gesangslinien aufmerksam folgt. Im zweiten Teil, wo die Handlung komplexer wird und in unglaubliche psychische Abgründe vordringt, wird die Musik explorativer, aus (stets zurückhaltend eingesetzten) Klangballungen und dissonanten Reibungen lösen sich fragile Einzelstimmen der Instrumente in zarten Verästelungen auf, untermalen die seelischen Turbulenzen der Protagonisten. Um diese dramatischen Verläufe glaubwürdig darzustellen, braucht es ein starkes Ensemble - und genau über dieses verfügt das Theater St.Gallen, welches mit dieser Produktion in die erste Spielzeit unter dem neuen Operndirektor Jan Henric Bogen startet. Vuvu Mpofu ist eine durch und durch berührende Bess, spielt mit grandioser Intensität diese junge Frau in der engen Dorfgemeinschaft auf der Isle of Skye, welche in ihrem Streben nach (auch sexuellem) Glück zwischen Glauben und Naivität aufgerieben, ja regelrecht zermalmt wird.

 

 

Frau Mpofu glänzt mit einer makellosen, wunderbar leuchtenden, lichten Sopranstimme, die sich mühelos über die düstern, bigotten Gesänge der verbohrten Calvinisten (Männer!) schwingen kann. Herzzereissend ihr Tod mit dem abbrechenden Aufschrei "Mrs.Jan" auf den Lippen. Ihr Angebeteter ist der norwegische Arbeiter Jan, der kurz nach der Hochzeit bei einem Unfall auf einer Ölplattform eine Querschnittslähmung erleidet und dadurch natürlich auch seine Sexualkraft verliert. Robin Adams gestaltet diese Rolle zuerst mit machohaftem, aber durchaus sympathischem, humorigem Sex Appeal. Erschütternd dann seine verständliche Wandlung nach dem Unfall: suizidgefährdet, seine Bess mit unmöglichen Forderungen konfrontierend (Sex mit anderen Männern haben und ihm davon berichten müssen). Mit markantem, sicher geführten Bariton druchschreitet Robin Adams die emotionalen Zustände dieses Charakters, überzeugt sowohl in den durchaus vorhandenen heiteren Episoden des ersten Aktes, als auch in seinen Qualen im zweiten und dritten Akt. Berührend gestaltet er den Abschied am Grab von Bess, welche bei einer Vergewaltigung tödliche Verletzungen erlitten hatte, während er (durch ihre Liebe, die ihn am Leben erhalten hatte) den Weg der Genesung beschreiten konnte. Bess ist in ihrer Dorfgemeinschaft nicht nur von engstirnigen, strenggläubigen, bigotten und frauenverachtenden Chauvinisten umgeben, welch ihr unter der Anführung des Council man (David Maze) das Leben schwer machen. Nein, da ist auch noch ihre Schwägerin Dodo, welch in schwierigen Situationen zu ihr hält. Jennifer Panara singt diese dankabare Partie mit warm und einnehmend timbriertem Mezzosopran. Bess' Mutter und Dodos Schwiegermutter ist eine verhärmte Frau (sie hat ihren Sohn, Bess' Bruder und Dodos Ehemann, verloren, Bess hat wegen des frühen Todes ihres Bruders satationäre Behandlung benötigt). Immer wieder droht sie Bess, sie erneut ins Sanatorium einweisen zu lassen, da sie die unbedingte Liebe Bess' zu ihrem Jan nicht nachvollziehen kann. Missy Mazzoli hat diese Figur musikalisch sehr genau charakterisiert und Claude Eichenberger singt sie mit der gebotenen grossen, kalten Stimme mit wirkungsvollem, eingedunkeltem Klang. Christopher Sokolowski als mit jugendlich-apartem Tenor singender Dr.Richardson widersetzt sich zwar den Annäherungsversuchen von Bess, welche (um Jans Wünschen Folge zu leisten) mit ihm schlafen will. Doch eigentlich ist auch er ein guter Typ. Sehr sympathisch kommt der Bassbariton Justin Hopkins als Jans Kumpel Terry rüber, der mit wendigem Bass sowohl die humorigen als auch empathischen Momente treffend umsetzt. Kristján Jóhannesson als sadistischer Matrose und Cristian Joita als junger Matrose vervollständigen das exzellente Ensemble adäquat. Aus dem Graben sorgt das wunderbar transparent aufspielende Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Modestas Pitrenas für die packende lautmalerische Dichte mit der Umsetzung der genialen Partitur von Missy Mazzoli.

 

 

Der neue Operndirektor hat seine erste Spielzeit unter das Motto "herstory" gestellt, Geschichten von und über Frauen(schicksale), und aus dem Blickwinkel von Frauen erzählt. So überliess er die Inszenierung dieser Oper folgerichtig einer Frau, nämlich Melly Still. Sie erzählt die tragische Handlung sehr geradlinig, realistisch und stimmig. Auf der sparsam ausgestatteten Bühne dominiert eine rote brittische Telefonzelle (die Handlung spielt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts), aus welcher Bess ihre Gespräche mit Gott hält (Einsatz einer E-Gitarre), in die sie sich flüchtet, in der sie aber auch ihren ersten (ihr aufgezwungenen Seitensprung) vollführt. Des weiteren genügen ein Drillbohrer auf der Ölplattform, einige Stühle für die Kirche und das Hochzeitsfest (mit Glitzervorhang), ein Krankenbett, einige medizinische Apparaturen für die Intensivstation (Ausstattung: Ana Inés Jabares-Pita). So sind die schnellen, pausenlosen Szenewechsel, welche die filmische Vorlage nahelegt (das Meisterwerk von Lars von Trier), problemlos ermöglicht. Auf der rückwärtigen Leinwand sind stimmungsvolle, kunstvoll stilisierte Impressionen von Wellen und Tropfen zu sehen, aber auch bedrohliche Schattenspiele (Lichtdesign: Malcolm Rippath) Die Sexszenen werden mit der gebotenen Dezenz dargestellt, durchaus zur Sache gehend, aber stets das rein Voyeuristische und Pornographische vermeidend. Dank der herausragenden Sängerdarsteller"innen und der genauen Personenführung durch Melly Still entwickelt sich ein Drama mit veristischem Touch. Melly Still hat zusätzlich drei Tänzerinnen eingesetzt, die quasi den Frauenanteil auf der Bühne erhöhen sollen, die Handlung pantomimisch begleiten und (wie der Chor in griechischen Dramen der Antike) kommentieren sollen. Diese drei Tänzerinnen schieben auch Bühnenelemente herum (Telefonzelle, Krankenbett), spannen Seile, Kabel, medizinische Schläuche und Tücher, in denen sich Bess auch mal verfängt. Ganz zu überzeugen vermag das alles nicht (irgendwie wirkt das zu aufgesetzt und zu unbeholfen im ganzen Realismus), manchmal wähnt man sich fast in der Nornenszene in Wagners Götterdämmerung. Aber vielleicht ist die Brücke zu Wagner nicht eimal von der Hand zu weisen, denn mit der Bess haben die Komponistin Missy Mazzoli und der Librettist Royce Vavrek (beide waren an dieser Erstaufführung auf dem europäischen Kontinent in St.Gallen anwesend) eine Frauenfigur geschaffen, die sich durchaus in die Reihe der sich für die Männer bis zum Tod aufopfernden, tragischen Frauengestalten auf der Opernbühne einreihen darf.

Am Ende grosser, verdienter Jubel des Premierenpublikums für alle Beteiligten und die Erkenntnis, dass angelsächsische Komponist*innen uns durchaus einen Weg des zeitgenössischen Musiktheaters aufzeigen können, der in Kontinentaleuropa durch die Folgen und Zwänge der seriellen Musik (vor allem der Darmstädter-Schule) seit 70 Jahren nur schwer in die Gänge zu kommen scheint.

 

Fazit: HINGEHEN und sich überraschen und berühren lassen! Wenn zur Erlösung von Bess aus dem iridischen Tal der Tränen dann diese "fucking churchbells", welche sich Jan bei der Hochzeit gewünscht hatte, erklingen, bleibt kaum ein Auge trocken. So muss Oper!

 

Kaspar Sannemann, 23.9.2021

Copyright aller Bilder: Edyta Dufaj, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

 

 

 

 

St.Gallen, Klosterhof

IL TROVATORE

Pr 28.06.2019

 

Einführungsvideo

 

Mit bildgewaltiger Kraft setzen Aron Stiehl (Regie), Frank Philipp Schlössmann (Bühne), Mechthild Seipel (Kostüme), Bärbel Stenzenberger (Choreografie) und Franck Evin (Licht) Verdis IL TROVATORE auf der Cinemascope-Bühne im Klosterhof St.Gallen in Szene.

Genau wie Verdi versuchen sie erst gar nicht, die komplexe Handlung zu „erzählen“, sondern verlassen sich auf die bühnensichere Wirkung der dramatisch zugespitzen Szenen, welche den Komponisten zu seinen melodisch so begeisternden und mitreissenden Inspirationen motiviert hatten. Stiehl und seinem Team gelingt somit ein bühnenwirksames Theater, das manchmal an allegorisches Welttheater, dann wieder and endzeitliches, surreales Mysterienspiel erinnert. Dabei kreist die Inszenierung um die Themen Tod, Todessehnsucht, Rache, Dämonie und darum, dass wir vielleicht alle nur Marionetten einer höheren Macht oder eines diabolischen Unterbewussteins oder eines mefistofelischen Strippenziehers sein könnten. Denn als ein solcher Strippenzieher betätigt sich Ferrando. Von Beginn weg dominiert er die Szene, führt den ganzen Abend hindurch mit diabolischem Grinsen, grell rot geschminktem Mund, schwarzer Uniform und am Ende mit Todesflügeln und Schamanenfrisur durch die einzelnen Szenen. Ein gefährlicher Mephisto – und wenn er dann gar zum Miserere-Chor auf dem Balkon zwischen den Doppeltürmen der spätbarocken Ostfassade der Stiftskirche hoch über der Bühne auftaucht, hat das eine ungeheure, Gänsehaut erregende Wirkung.

Das ehemalige Ensemblmitglied des Theaters St.Gallen, Tijl Faveyts feiert mit dieser Basspartie eine triumphale Rückkehr in die Gallusstadt – sängerisch und darstellerisch eine überwältigende Leistung. Sein Bass strömt mit fantastischer, sonorer Qualität, sein Spiel wird den Anprüchen an diese enorme Aufwertung der Rolle voll gerecht: Fies und teuflisch, mit einer gehörigen Portion Sarkasmus! Der politische Bruderzwist und die private Rivalität (wobei die beiden Anführer nicht wissen, dass sie Brüder sind) wird von den Kostümen her mit den Farben Rot (Manricos Anhänger) und Blau (Lunas Gefolge) markiert, man sieht die beiden Kontrahenten auch immer immer wieder als Knaben über das gespenstische Schlachtfeld und den Soldatenfriehof schreiten und toben. Dieses mit Kreuzen übersäte Schlachtfeld stellt die gigantische Spielfläche der Bühne dar, hinten gegen die Stiftskirche begrenzt durch einen gigantischen, Schrecken evozierenden Todessengel, in dessen flammendem, von Dolchen durchbohrtem Herzen eine rundeTür für Auftritte und Abgänge eingelassen ist. Ausgeleuchtet wird diese Bühne mal grell weiss, dann wieder ganz in Rot oder in unheimlichem Dämmerlicht, eine spannende Lichtdramaturgie unterstütz die einzelnen Szenen. Und selbstverständlich begeistert und berührt der szenische Einbezug der Barockfassade der Stiftskirche durch sparsam, aber umso wirkungsvoller, eingesetzte Lichteffekte, so in der Klosterszene oder im Finale, wo beim Suizid Leonoras der Stern auf dem Mittelteil der Fassade hell in der Dunkelheit erstrahlt und Leonora unten von La morte (Valérie Junker) in eine andere Welt - eine hoffentlich hellere - geleitet wird.

Diese Figur von La Morte stellt eine Gegenfigur zum teuflischen Strippenzieher Ferrando dar, ein Wesen, das einzig Leonore zugedacht scheint. Natürlich können sich die Protagonisten auf dieser immensen Bühne nicht in charakterisierendem, intimem Kammerspiel bewegen, sondern müssen zur grossen (konventionellen) Gestik greifen. Doch immer wieder entdeckt man auch Überraschendes, etwa wenn Ferrando mithilfe eines umgedrehten Kreuzes die grosse Arie des Luna (Il balen del suo sorriso) als Cello spielender Pantomime begleitet. Alfredo Daza singt den Conte di Luna mit herrlich direkt ansprechender Baritonstimme, markant, präsent und mit vorzüglicher Phrasierung, grandios in die Cabaletta (Per me, ora fatale) einschwenkend. Gerade in dieser Klosterszene überzeugt das szenische Arrangement von Nonnen in fantasievollen Trachten - besonders die Hauben (eher schon Kopfputze) erregen Aufmerksamkeit – und Soldaten. Gross ist natürlich die Aufgabe für die Chöre, neben dem erwähnten Nonnenchor müssen der Chor des Theaters St.Gallen, der Opernchor St.Gallen, der Theaterchor Winterthur und der Prager Philharmonische Chor (Einstudierung: Michael Vogel) auch als Soldaten und Zigeuner (hier szenisch an den Gefangenenchor aus FIDELIO gemahnend) agieren und singen – und sie machen das stimmlich sehr gut, einzig bei den beiden Soldatenchören kam es zu Wacklern zwischen Orchester und Chor.

Die Distanz zum Dirigenten ist ja auch enorm, denn wie immer bei den Festspielen auf dem Klosterhof ist das Orchester nicht vor der Bühne platziert und der Kontakt zum Dirigenten ist nur über zwei grosse Leinwände und Monitore möglich. Michale Balke hält jedoch die Fäden zwischen Bühne und dem feurig und differentziert spielenden Sinfonieorchester St.Gallen mit nie überhasteten Tempi gut zusammen. Im Schlussteil offenbaren sich musikalisch nochmals alle begeisternden Vorzüge dieser Produktion: Für den absoluten musikalischen Höhepunkt sorgen die beiden Damen – Hulkar Sabirova als Leonore und Okka von der Damerau als Azucena. Hulkar Sabirova kann bereits in ihrer Auftrittsarie (Tace la notte) mit herrlichem An- und Abschwellen des Tons, berückenden Piani und fein intonierten Höhen überzeugen, doch was sie dann in ihrer zweiten Arie (D'amor sull'ali rosee) den begeisterten Zuschauern bietet, ist beinahe nicht von dieser Welt. Welch ein lyrischer, unforcierter Ansatz, welche Luftigkeit, welch eine fantastische Agilität. Belcanto ohne protziges Röhren – von Intensität und berührender Interpretation erfüllt! Brava! Ebenso berührt Okka von der Damerau, erst in Stride la vampa im zweiten Teil und dann in ihrer schlichten, aber so wunderschön komponierten Szene im Schlussbild (Ai nostri monti). Das ist zum Weinen schön, ehrlich und rein gesungen, von den Tontechnikern mit ganz wenig dezentem Hall versehen – eine starke Wirkung erzeugend. Überhaupt kann man die Tontechniker der Festspiele in St.Gallen einmal mehr für ihre Arbeit loben (Stephan Linde und Benjamin Schultz). In den undankbaren, wenig ergiebigen Rollen der Ines und des Ruiz (sie dienen vor allem als Stichwortgeber für Cabaletten der Protagonisten) sind Gergana Geleva und Riccardo Botta gut besetzt.

Doch einer ist da noch – der „Titelheld“ Manrico, der Troubadour. Timothy Richards glänzt mit einer wunderbar ebenmässig timbrierten Tenorstimme, viril, sicher, bruchlos und selbstbewusst in die gefürchtete Stretta Di quella pira einsteigend, empfindsam die Schlussszene mit Azucena gestaltend, wo beide beinahe liedhaft sauber und schön intonierend im Gefängnis des nahen Todes harren. Er wird zuerst vom diabolischen Ferrando erschossen, dann sagt Azucena dem triumphierenden Luna ins Gesicht ... era tuo fratello um in den erschütternden Ausruf zu münden Sei vendicata, o madre! Gänsehaut pur – wie in vielen Momenten dieser überwältigenden Produktion.

 

Kaspar Sannemann, 30.6.2019

copyright: Tanja Dorendorf

 

 

Claudio Monteverdi, in der Bearbeitung von Ernst Krenek

I' INCORONAZIONE DI POPPEA

11.05.2019

 

Einführungs-Video

 

Einmal mehr beweist das Theater St.Gallen Mut und Entdeckerfreude zugleich. Mut, indem es sich nicht auf den Weg der seit rund 40 Jahren angesagten so genannten historischen Aufführungspraxis alter (barocker) Opern begibt, Entdeckerfreude, indem es eine Fassung der INCORONAZIONE DI POPPEA zur Diskussion stellt, die Ernst Krenek vor gut 80 Jahren erstellte und die seit dieser Zeit szenisch nie mehr aufgeführt wurde. Und der Mut zahlt sich aus, das Resultat ist mehr als hörens- und sehenswert. Ernst Krenek hat die Handlung klug gestrafft, Nebenfiguren (insbesondere die komischen) gestrichen, die Plausibilität durch das Weglassen der Travestie beim Plan zur Ermordung der Poppea gestärkt. Was die Musik anbelangt ist dem renommierten (und bis heute leider stark unterschätzten, universal gebildeten) Komponisten ein Meisterwerk gelungen, das in seinen Bann zieht. Noch selten sass ich in einer POPPEA Aufführung, die so kurzweilig und spannend war. Was Krenek da aus den Melodielinien und dem überlieferten Continuo Monteverdis (und seiner Mitverfasser???) an harmonischen Finessen, instrumentalen Farben (Krenek komponierte für ein relativ gross besetztes, „modernes“ Orchester) herausgeholt hat, überzeugt, ja begeistert. Das Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Corinna Niemeyer transportiert diese instrumentale Farbpalette aufs Wunderbarste, zeigt die motivischen Verästelungen mit der gebotenen Transparenz. Der Orchesterklang ist nie zu dick oder zu aufdringlich, auch in den beiden Vorspielen und dem Intermezzo herrscht eine kluge dynamische Subtilität vor, die das Ohr zum aufmerksamen Zuhören lenkt. Und wer nun denkt, hm Krenek, Dodekaphonie, Dissonanz, dem sei Entwarnung gegeben. Das ist alles wunderbar fein, zart, ganz Monteverdi, aber in einem hoch spannenden Gewand.

Wolfgang Menardi hat für die Inszenierung von Alexander Nerlich einen sehr gut bespielbaren Raum geschaffen, ein leeres, weiss gefliestes Schwimmbad nach einem Brand. (Der Brand von Rom unter Neros Herrschaft?) Auf dem Boden des Pools liegen angekokelte Möbelstücke, ein halb verbrannter Flügel, Asche- und Kohlehaufen. Es herrscht ein Art Endzeitstimmung vor, die Menschen sind irre geworden. Darauf deutet auch ein Rorschach-Test auf dem Zwischenvorhang und hereinfliessende Tinte hin, die sich zum orchestralen Vorspiel darauf ausbreitet. In diesen atmosphärisch kalten Raum scheinen sich die Figuren vor dem Brand geflüchtet zu haben und auf dem engen Raum kommt es zu den Konflikten, der getriebenen Liebe, der rasenden Eifersucht und dem Tanz auf dem Vulkan. Eine Endzeitstimmung, welche der Kostümbildnerin Žana Bošnjak natürlich vielfache Möglichkeiten für fantasievolle Kostüme bietet, welche von Anklängen an klassizistische römische Frauenkleider bis zu am Gothic Stil angelehntem schwarzem Outfit reichen. Alexander Nerlich hat es verstanden, die Charaktere innerhalb dieses geschlossenen Raums wunderbar stimmig herauszuarbeiten. Raffaella Milanesi ist eine verführerische, selbstbewusste und zielstrebige Poppea. Ihr dunkel timbrierter Sopran vermag mit seiner erotischen Leuchtkraft zu faszinieren – und den Nero zu manipulieren. Dieser Nero ist hier eine gebrochene Figur, den sexuellen Avancen der Poppea vollkommen verfallen, an der Flasche hängend und zu cholerischen Ausbrüchen neigend. Anicio Zorzi Giustiniani bleibt diesen vielen Facetten des Kaisers nichts an Nuancen schuldig, setzt seinen wunderbar ausgeglichenen und biegsamen Tenor gekonnt zur Charakterisierung dieses Mannes ein.

Zusammen sind Nero und Poppea hier wirklich ein Paar, das sich gegenseitig „verdient“. Von der archaischen Vermischung ihres Blutes, über das ungehemmt zur Sache gehende Liebsspiel im zweiten Teil führt ihre Verbindung zu einem der schönsten Liebesduette am Ende der Oper (Pur ti miro). Darin rühren Raffaella Milanesi und Anicio Zorzi Giustiniani zu Tränen: In vollkommener Schwärze (das Schwimmbad wird von einer herabfallenden schwarzen Plastikfolie zugedeckt, wie eine drohende Wand aus schwarzer Asche) besingen die beiden ihre Liebe, losgelöst und entrückt vom Tal der Tränen des irdischen Daseins. Schwergemacht hat ihnen diese Liebe die betrogene Gemahlin Neros, Ottavia. Ieva Prudnikovaite ist in dieser Rolle der verlassenen Ehefrau und Kaiserin ein stimmliches und darstellerisches Ereignis: Kraftvoll und doch kontrolliert rast und trauert sie, ihre Abschieds-Arie, bevor sie in Verbannung geschickt wird, berührt ungemein. Wie sie dieses stotternde Addio Roma, addio patria gestaltet, geht wahrlich unter die Haut. Wunderbar leuchtend singt Tatjana Schneider die Drusilla, die hoffnungsvoll liebende und aufopferungsbereite ehemalige Gefährtin des Ottone, die - nach dessen Brüskierung durch Poppeas Hinwendung zu Nero- nun neue, herrlich jubelnd vorgetragene Ambitionen auf Ottone hegt. Ottone wird vom Bariton Shea Owens mit runder, differenzierter Stimmführung gegeben. Milena Storti liefert ein subtil gestaltetes Porträt der Arnalta ab – einerseits die besorgt um Poppea agierende Amme (sanft und wunderschön wiegend das Schlaflied), andererseits ihre Chancen zum sozialen Aufstieg durchaus wahrnehmende Karrieristin. Ihr fein geführter, unforcierter und trotzdem ausdrucksstarker Alt zwingt zum genauen Hinhören. Ausgezeichnet singen und agieren die beiden Soldaten Neros, Barna Kovács und Robert Virabyan und solide wie stets der Chor des Theaters St.Gallen (Einstudierung: Michael Vogel).

Und dann ist da natürlich noch Seneca, der Philosoph und Erzieher Neros: Martin Summer kommt als zerzauster Mönch daher, hat etwas von Rasputin. Aber seine Stimme ist sanft und doch bestimmt (grandios das Vanne, vattene omai), wunderbar sonor, ohne aufdringlich zu sein. Der dialektische Schlagabtausch zwischen ihm und Nero ist einer der Höhepunkte der Aufführung. Martin Summer und Anicio Zorzi Giustiniani schenken sich an intellektuellem Schliff und temporeicher Rede und Gegenrede nichts. Hier offenbart sich ganz besonders die hohe literarische Qualität des Librettos von Giovanni Francesco Busenello. Für Seneca allerdings bedeutet dieser Schlagabtausch das Todesurteil, welches ihm die Göttin Pallade überbringt (ausgezeichnet Candy Grace Ho). Da Krenek den Prolog mit den drei Göttern Amor, Virtú und Fortuna gestrichen hatte, ist Pallade die einzige Göttin geblieben, welche singend in seiner Fassung auftritt. Doch der Regisseur hat nun noch die Figur des Amor in seine Inszenierung eingefügt, ein Strippenzieher der dämonischen Art, welche den Figuren Halt gibt, oder sie in psychische und triebhafte und von sexueller Besessenheit geprägte Abgründe leitet. Dieser Amor wird getanzt von Diane Gemsch – und wie! Das ist stupende Akrobatik, verblüffend, beängstigend und zutiefst verstörend zugleich. Und auch nicht ganz unproblematisch, denn diese Figur mit ihrer ungeheuren Präsenz lenkt auch manchmal von der Interaktion der Protagonisten ab. Andererseits ist es doch so, wie Amor im gestrichenen Prolog sagt: „Ihr werdet zugeben müssen, dass sich auf eine blosse Laune von mir die ganze Welt verändert.“ Von daher ist der Einfall des Regisseurs dann doch auch wieder klug und stimmig!

Fazit: Ein packender, hoch interessanter, spannender Abend. Ein MUSS sowohl für Freunde des barocken Musiktheaters als auch für Anhänger von Kreneks Schaffen. Und eine Aufführung, die man sich gerne mehrmals ansehen möchte!

 

Kaspar Sannemann 12.5.2019

Bilder (c) Theater St. Gallen

 

DON CARLO

27.10.2018

 

Man könnte sich kurz fassen: Diese Neuproduktion von Verdis DON CARLO am Theater St.Gallen ist optisch UND musikalisch eine Wucht.

Doch eine Kurzfassung haben die Verantwortlichen auf und hinter der Bühne und im Orchestergraben natürlich nicht verdient. Beginnen wir also mit dem Augenfälligsten, den Kostümen, welche die Modedesignerin Alexandra Facchinetti entworfen hatte (sie arbeitete für Gucci, Valentino, Prada u.a. und führt nun ihr eigenes Designstudio). In ihrer ersten Arbeit für das Theater schuf Alexandra Facchinetti Kostüme von einer Opulenz sondergleichen, mit einer prachtvollen Ästhetik und einem sensationellen Detailreichtum (die fantastischen Samstickereien und Spitzen wurden vom St.Galler Traditionsunternehmen Forster Rohner AG grosszügig unterstützt). Dabei sind diese Kostüme nicht bloss Selbstzweck, sonder zeichnen die Charaktere und ihre Befindlichkeiten sehr präzise.

Manche Figuren drohen in ihren Roben beinahe zu ersticken (Elisabetta di Valois). Andere heben sich deutlicher vom strengen Regime ab, erscheinen moderner, bürgerlicher, intellektueller (Don Carlo, Posa) oder farblich und vom Schnitt her ungebundener (Eboli). Stilistisch bewegen sich diese Kostüme in der Entstehungszeit der Oper, dem Second Empire um 1870. Hier hat Regisseur Nicola Berloffa die Inszenierung angesiedelt, in einer absolutistischen Monarchie in ihren letzten Zügen, deren Auf- und Ablösung spürbar wird. Dabei verzichtete er ganz und gar auf Aussenräume, unterstreicht damit den „Gefängnis“- Charakter des Stücks, einem teils goldenen, teils realen Gefängnis, in welchem die Personen gefangen sind. Als Einheitsraum entwarf Fabio Cherstich einen mit roter Tapete ausgeschlagenen, grossen Raum mit riesigen Flügeltüren links und rechts. In diesen Raum hinein wird von oben für gewisse Szenen ein weiterer, kleinerer Raum heruntergelassen, mal hell, mal pechschwarz (für die Gefängnisszene). Auch das Autodafé findet im Inneren dieses Palastes statt. Hier zeigt sich, woher Berloffa eine seiner Inspirationen für die Inszenierung her hatte, vom Gemälde Der Empfang der Gesandten aus Siam in Fontainebleau von Jean-Léon Gérôme von 1865. Auch bei Berloffa sind es nämlich nicht Gesandte aus Flandern, die um Gnade bitten, sonder südostasiatische Männer in traditioneller Tracht (auch hier kostbarste Stoffe vom Allerfeinsten). Das macht insofern Sinn, als im 19. Jahrhundert Frankreich seinen Einflussbereich in Südostasien ausweitete und Teile von an Siam angrenzenden Gebieten kolonialisierte.

Nicola Berloffa hat in seiner Arbeit am DON CARLO vieles ausgezeichnet durchdacht und sinnfällig gemacht. Dabei hat er den Schwerpunkt feinfühlig mehr vom Schicksal Don Carlos weg und hin zu Elisabetta verlagert. Das macht nur schon der Beginn deutlich, wo man die beiden Damen Elisabetta und ihre Vertraute, die Contessa D'Aremberg, verängstigt nebeneinander stehen, einander Halt geben sieht.

Indem Berloffa die Contessa auch die Gesangspartie des Tebaldo singen lässt, erhält die Figur das notwendige Gewicht, um überhaupt wahrgenommen zu werden (der Tebaldo hat nämlich ausser stimmlichem Kolorit absolut keine Bedeutung für die Handlung), die D'Aremberg hingegen schon, da nur so die Demütigung Elisabettas durch den König verstanden werden kann. Klug auch, dass Elisabetta und ihre Vertrauten (Contessa, Posa) in intimen Szenen und Momenten der Trauer, der Einsamkeit französisch singen, der Muttersprache Elisabettas, und damit die Verlorenheit Elisabettas am fremden Hof zeigen, an den sie durch die politisch motivierte Heirat mit Filippo II. versetzt wurde. Die Personenführung durch den Regisseur ist wohltuend zurückhaltend, manchmal hätte man sich vielleicht eine etwas deutlichere Handschrift gewünscht, um den Rückfall in die traditionelle Operngestik zu vermeiden. Kamen daher am Ende vielleicht die (total unangebrachten) wenigen Buhrufe für das Inszenierungsteam? Interessant war die Ansetzung der Pause nach der Szene mit der Verwechslung im Garten (hier natürlich im grossen Saal und mit der aus der Urfassung übernommenen – wichtigen - Szene des Schleiertauschs), also noch vor dem Autodafé, welches den zweiten Akt beschliesst. Doch auch dies war natürlich wohl durchdacht, denn Berloffa lässt das Autodafé mit der totalen Vereinsamung des Königs enden (die Gesellschaft und die Familie wenden sich vom absolutistischen Herrscher ab) und somit nahtlos in den dritten Akt übergehen, zu Fillippos grosser Szene Ella giammai m'amò. Ab dem Autodafé steigern sich zudem die dramatische Spannung des Werks und der Inszenierung zum bewegenden Drama, und man realisiert einmal mehr, dass DON CARLO zu Recht von vielen Verdi-Verehrern als sein psychologisch stärkstes Werk angesehen wird.

Ein Werk natürlich, das entsprechend starke Interpret*innen verlangt. Die standen in St.Gallen wahrlich zur Verfügung. Tareq Nazmi verkörperte den Filippo II mit unfassbar bassgewaltiger stimmlicher Durchdringung. Die traumhaft schöne, ausgeglichene Farbe seiner Stimme, die tiefgründige Auslotung der seelischen Zustände, dieses Eingesperrtsein in die Rolle und das strenge Zeremoniell des Herrschers, die Enttäuschung über seinen Sohn, das Schwanken zwischen Vaterliebe und religiösen Zwängen und Abhängigkeiten, die Kälte seiner Beziehung, all dies zeigte Tareq Nazmi mit einfühlsamer darstellerischer und stimmlicher Gestaltungskraft. Ein Leistung zum Niederknien. Alex Penda gab eine stimmlich eine starke Elisabetta mit breitem Ausdrucksspektrum, bei dem einzig die etwas zarteren Aspekte fehlten. Beeindruckend hingegen ihr unglaublich starkes tiefes Register und die Sicherheit der Intervallsprünge in ihrer grossen Arie Tu che le vanità im vierten Akt. Mit Anmut und Grandezza trug sie nicht nur ihre wunderschönen Kleider, sondern auch ihr Schicksal.

Eduardo Aladrén war dieser schwächliche Sohn, der sich auf Drängen seines Freundes Posa aufmacht, die Enttäuschung über die an seinen Vater verlorenen Frau durch revolutionären Geist wettzumachen. Im ersten Auftritt wirkte er stimmlich noch etwas unausgeglichen, kämpfte im leiseren Bereich mit der Intonation, doch steigerte er sich im Laufe des Abends zusehends, nicht zuletzt weil er sich auf die effektvolle Wirkung und die Höhensicherheit seiner Durchschlagskraft verlassen konnte. Somit verblieb er zwar durchgehend im forte und fortissimo Bereich, dort aber sehr gut aufgehoben. Ganz anders der Marchese di Posa von Nikolay Borchev, der mit der weichen, differenzierten Gestaltung seines Baritons berührte. Genauso subtil wie seine Gesangslinien setzte er seineMimik ein. Nur schon die Blicke, mit denen er die Principessa Eboli tadelte, als sie zu neugierig wurde, sprachen Bände. Alessandra Volpe machte diese Eboli stimmlich zu einem Ereignis, bekundete weder mit den diffizilen Fiorituren der Schleierarie, noch mit den dramatischen Ausbrüchen im Terzett oder in der Bravourarie O don fatale irgendwelche Mühe. Wunderbar konnte sie in dieser Arie von brachialer Wucht zu zarten Tönen im Mittelteil wechseln (o mia regina). Der Grande Inquisitore war hier weder blind noch alt. Im Gegenteil, er liess es sich nicht nehmen, den Posa eigenhändig zu erschiessen (war ja auch seine Idee). Ernesto Morillos Bass verfügte über genau die erforderliche „dreckige“ Schwärze dieses kirchlichen Machtpoitikers, um die Auseinandersetzung mit Filippo im dritten Akt zu einem mitreissenden Wettstreit der beiden Bässe zu machen, einem der vielen meisterlichen kompositorischen Einfälle Verdis. Sheida Damghani war darstellerisch eine rührende Contessa D'Aremberg und bezauberte mit ihrem (von Tebaldo entlehntem) Gesang. Der Conte di Lerma ist eine nicht sehr dankbare Rolle, die von Riccardo Botta ansprechend interpretiert wurde. Kurz ist auch der Auftritt des Araldo reale, Nik Kevin Koch meisterte die nicht zu unterschätzenden a capella Phrase mit bewundernswerter Sicherheit. Sehr einnehmend und präsent sang Tatjana Schneider die Voce dal cielound Martin Summer beeindruckte einmal mehr mit seinem fantastischen, klangvollen Bass als Frate (und Stimme Kaiser Karls V.) aus dem Off.

Modestas Pitrenas dirigierte Verdis dramatische Partitur mit kräftigen, aber nie schmetternden Akzenten, vorwärtsdrängend und auf Durchhörbarkeit angelegt. Wunderschöne Einzelleistungen des Sinfonieorchesters St.Gallen stiegen aus dem Graben auf, so z.B. das Solocello in Filippos grosser Szene. Die Hörner intonierten das diffizile Vorspiel mit einer grandiosen Sicherheit und Sauberkeit, die man nur selten so hört. Wie immer glänzten der von Michael Vogel einstudierte Chor und der Opernchor St.Gallen mit einer stimmschön austarierten Leistung.

So richtig Gänsehaut gab es dann am Ende des letzten Aktes, als Don Carlo zuerst auf den Grossinquisitor losging und dann an der Spitze des Trauerzugs (Posa wird zu Grabe getragen) der hoffentlich lichteren Zukunft entgegenschreitet, während die Figuren des Ancien Régime gebrochen zurückbleiben. Stark – wie der ganze Abend!

Bilder (c) Iko Freese

Kaspar Sannemann 4.11.2018

copyright: Iko Freese, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

 

 

DIE JAHRESZEITEN von Haydn

Ballett am 22.09.2018

 

TRAILER

 

Die Idee, welche Beate Vollack für ihre Inszenierung und Choreographie von Haydns Oratorium entwickelt hatte, war bestechend: Entsprechend dem Tableau-Charakter von Haydns Komposition liess sie das Werk in einem Kunstmuseum tanzen und spielen, stellte eine Reinigungsfachfrau (Hanne) in den Mittelpunkt des Geschehens, welche ihre Fantasie – angeregt von den Gemälden - in verschiedene Tagträume abdriften liess. Das führte zu witzigen, aber auch sehr poetischen Situationen und die Sopranistin Sheida Damghani bezauberte dabei nicht nur mit ihrer fein geführten, wunderbar zart intonierenden Stimme, sondern auch mit ihrem köstlichen darstellerischen Spiel. Von der die Arbeit vernachlässigenden Reinigungskraft Hanne wurde sie zur die Natur geniessende Wandererin, zur Eisverkäuferin im Sommerbild.

Das Gemälde LILITH von John Collier und eine moderne Apfelskulptur, bei der sie genüsslich den Penis des nackten Jünglings abstaubte, liessen sie im Herbst in Gedanken zur Eva werden, die ihren Adam (hier der Lukas, von Nik Kevin Koch gesungen) verführt. Doch die Schlange aus dem Bild kommt dazwischen, Adam isst von der verbotenen Frucht, das von Hanne erträumte Paradies (sie hat sich gar mit einem Sari, den sie von der Schlange bekommen hat, geschmückt) führt nicht zum Kamasutra, sondern das erhoffte Paradies endet abrupt in einem Unterhosen-/Bierdosentanz, von dem Hanne ausgeschlossen ist. Am Ende (zur Reprise der Ouvertüre) fegt Hanne den Schneestaub zusammen, während einzelne Figuren aus den Traumsequenzen nochmals über die Bühne tanzen. Die Winterbilder werden abgeräumt, kurzzeitig herrscht eine triste Leere, bevor Frangards Riesengemälde der Rokoko-Dame in der Schaukel wieder hereingetragen wird und die Szene einfriert. Ein schöner, poetisch-nachdenklich stimmender Schluss. Von solchen Momenten hätte man sich an diesem Abend noch mehr gewünscht, denn oft bildete die Choreografie nur die naiven Momente und Texte des Oratoriums nach, lieferte zu wenig an Konterkarieren, liess eigentlich witzigen, sarkastischen Ideen zu wenig Raum zur Entfaltung.

Entfalten konnten sich jedoch die vielseitigen, agilen Tänzerinnen und Tänzer der Tanzkompanie St.Gallen in den diversen Genre-Bildern (die Präzision in der Synchronizität wird sich bestimmt im Verlauf der Serie noch etwas verbessern), welche sich mit spürbarem Enthusiasmus und verspielter Lust an der Verwandlung in Szene setzten. Künstlerisch austoben konnte sich auch der Ausstatter der Produktion, Jon Morrell. Welch ein Reichtum an fantasievollen, sorgfältig gearbeiteten Kostümen war da zu bewundern, von den beautiful Beach-People in ihren schicken Mondrian-Badekleidern und transparenten Regenpelerinen beim einsetzenden Sommergewitter, zu der glitzernden Schickimicki Gesellschaft bei der Vernissage der neuen Ausstellung, den witzig-pummeligen Schneeflocken, den Schafen, die sich der Packarbeiter Simon (gesungen von Martin Summer) als Hirte herbei träumt (eines davon verirrt sich als running gag in verschiedene Szenen), zu römischen Bacchanten und Bacchantinnen und zu einer Gruppe in Knickerbockers. Auch die Auswahl der Gemälde für die vier Jahreszeiten-Ausstellungen im Museum war überaus treffend gewählt: Frangards erwähnte Rokoko-Dame auf der Schaukel im Frühling, Hodlers blaue Frau (Lied aus der Ferne) im Sommer, Colliers Lilith im Herbst und eine nackte Skifläuferin im Winter stellten jeweils das zentrale Element dar, flankiert von weiteren Gemälden, welche von Toulouse-Lautrec, über Segantini, Kirchner zu Gainsborough führten. Die Seitenwände links und rechts zierten verschiedene Porträts von Papa Haydn. Besonders eindringlich wurde eines dieser Porträts des Komponisten in Szene gesetzt, als es transparent wurde und dahinter Martin Summer mit seinem herrlich strömenden Bass (und mit Haydn-Perücke) die Arie Erblicke hier, betörter Mensch, deines Lebens Bild sang, das war der bewegendste Moment des Abends. Haydn war zum Zeitpunkt der Komposition und der Uraufführung nämlich schwer krank. Hier singt ein Mensch, der Rückblick auf sein Leben hält, ein Moment der Wehmut, des Abschieds, eine Reflexion über Leben, Vergänglichkeit und Tod. Wunderbar!

Nik Kevin Koch als Lukas überzeugte mit seinem hell timbrierten, ausgeglichen geführten Tenor, der sowohl mit Sheida Dhamganis Sopran als auch mit Martin Summers Bass aufs Schönste harmonierte. Eindringlich gestaltete er seine Arie des ermatteten Wanderers/Skiläufers auf dem Weg zur Hütte im Winterbild. Mit umwerfender darstellerischen Verwandlungskunst schlüpfte er in die ihm zugedachten Charaktere, vom gestrengen Aufseher (über die Putzfrau), zum smarten Museumsdirektor, dem verträumten Künstler (Hodler-Bild), dem Jüngling im blumigen Anzug und zu dem sich schleppend durch den Schneesturm kämpfenden Skiläufer.

Mit 19 Sängerinnen und Sängern relativ klein besetzt war der Chor des Theaters St.Gallen, doch was dieser Kammerchor an Farbigkeit und Klangentfaltung in den Lobpreisungen der Schöpfung und den Kommentaren zum idyllischen Landleben (wir sind im Zeitalter der Aufklärung, keine Klimaveränderung, kein Glyphosat – Skandal vermag die Stimmung zu trüben) ertönen liess, verdient höchstes Lob (Einstudierung: Michael Vogel). Akustisch war der Chor natürlich auch sehr vorteilhaft hinter den Gemälden der Bühnen-Rückwand platziert. Dadurch ergab sich auch im Zusammenspiel mit dem vortrefflich aufspielenden Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Michael Balke eine perfekte klangliche Balance.

Da blitzten wunderschöne orchestrale Farben auf, von den Klarinetten, den Flöten und den lichten Streichern. Das Premierenpublikum zeigte sich überaus angetan von dieser Produktion (Koproduktion mit der Oper Graz) und bedachte die Ausführenden und Produktionsverantwortlichen mit begeistertem Applaus.

Fazit: Ein beschaulicher, stellenweise echt witziger, manchmal auch poetisch-verträumter Abend, von dem man sich lediglich an gewissen Stellen noch etwas mehr szenischen Biss gewünscht hätte.

Kaspar Sannemann 23.9.2018

Bilder (c) Theater St. Gallen

 

 

 

IL PIRATA

Besuchte Vorstellung: 19.05.2018

 

TRAILER

Hochspannend begeisternder Opernabend

Das Theater St.Gallen entwickelt sich immer mehr zu einem Mekka für die Liebhaber von Bellinis süchtig machenden melodie lunghe, lunghe, lunghe (wie Giuseppe Verdi sie nannte). Nach der fulminant besetzten LA SONNAMBULA (2010) und der geradezu exemplarisch Massstäbe setzenden NORMA (2016 - man darf sich bereits auf die Wiederaufnahme in der kommenden Saison freuen) stellt das Theater St.Gallen nun also die eher selten auf den Spielplänen auftauchende Oper IL PIRATA zur Diskussion. Und erneut gelingt der kleinen Bühne ganz Grosses: Ein szenisch und musikalisch hoch spannender, begeisternder Opernabend, ein Plädoyer für das Werk und die italienische Romantik. Diese Romantik kommt hier in der Inszenierung von Ben Baur in einem quasi filmischen Gewand daher, Assoziationen an Viscontis IL GATTOPARDO und Meisterwerke des italienischen Neorealismo der 40er Jahre (gegen Ende des 2. Weltkriegs) werden durch das Bühnenbild (ebenfalls von Ben Bauer), die Lichtgestaltung (Mariella von Vequel-Westernach) und die Kostüme (Uta Meenen) evoziert, sie geben der Oper plastische Struktur, kratzen an der schauerromatischen Oberfläche der Vorlage, bringen Spannung und in die Tiefe gehende Charakterisierung der Protagonisten. Einen gekonnten Kniff erlaubt sich der Regisseur, in dem er die erste Szene der Oper an den Beginn stellt, sie aber neu interpretiert. Nicht der fürchterliche Sturm (wie in Verdis OTELLO) wird hier vom Chor und von Goffredo beschrieben, sondern wir wohnen einer Trauerfeier teil, in der Mitte ein Kindersarg mit Foto und einem Spielzeug-Piratenschiff.

Die Trauergemeinde weicht vor der verstört wirkenden und am Ende der Trauerzeremonie regelrecht ausrastenden Mutter zurück – man ahnt: Schreckliches ist geschehen. Der schwarze Vorhang schliesst sich gleich einer Filmblende wieder. Erst jetzt setzt die Ouvertüre ein, wie in einem Stummfilm wird „Zehn Jahre früher“ eingeblendet, und pantomimisch dargestellt erleben wir zur Ouvertüre die Vorgeschichte, die erzwungene Heirat Imogenes mit Ernesto, die Flucht Gulatieros, die Geburt des Kindes. Beinahe atemlos verfolgt man das nun einsetzende Drama, diese fatale Dreiecksgeschichte. Denn natürlich ist man mehr als gespannt, warum diese Kindesbeerdigung am Anfang der Oper steht, ist doch im Libretto von Felice Romani nichts davon zu lesen. Doch willkürlich ist der Einfall des Regisseurs beileibe nicht, denn in der Dramenvorlage des irischen Autors Maturin (Grossonkel von Oscar Wilde) bringt Imogene tatsächlich im Wahn ihr Kind um.

Auch Goffredo ist dort ein Prior und nicht wie bei Bellini/Romani ein Einsiedler. Doch in der französischen Fassung, auf der Romanis Libretto fusst, wurden diese Elemente aus Zensur- und Schicklichkeitsgründen eliminiert, wie im Programmheft zu lesen ist. In St.Gallen mutiert diese Imogene also zu einer Art Medea, bringt ihr eigenes Kind um, nicht unbedingt aus Rache an ihrem despotischen Ehemann (und Paten der Mafia, er hat etwas von Marlon Brando in THE GODFATHER), sondern weil sie nicht will, dass sich die Spirale der Gewalt in ihrem Kind fortsetzt. Denn anlässlich eines Festes bei Ernesto (inklusive korrupten Boxkampfs mit Wetten) unterzieht Ernesto diesen Jungen dem blutigen Initiationsritual der Cosa Nostra: Er ritzt dem Jungen die Haut auf, lässt dessen Blut auf Geldscheine tropfen und entzündet diese. Am Ende der Oper befinden wir uns wieder bei der Beerdigung des Kindes vor dem Sarg. Imogene versinkt nach ihrem Ausraster in der ersten Szene nun in einen quasi entrückten Wahn, und die Worte, die sie singt, machen eben gerade im Kontext des vorangegangenen Kindsmordes Sinn, wenn sie davon singt, ihren Sohn gerettet zu haben (Il figlio è salvo) und nun vermeint, die Trompete des Jüngsten Gerichts zu hören (Del giorno finale è questo la tromba).

Dass diese finale Wahnsinnsszene dermassen unter die Haut geht, ist nicht nur Bellinis Koloraturentaumel zu verdanken, sondern vor allem der Interpretin in St.Gallen, Joyce El-Khoury. Sie porträtiert diese Imogene mit einer Eindringlichkeit sondergleichen, zeichnet das Schicksal einer Frau, zerrissen zwischen den mafiösen Charakterstrukturen ihres Gatten Ernesto und den nicht minder machohaften und cholerischen Attitüden ihres wieder aufgetauchten einstigen Geliebten Gulatiero. Stimmlich ist Joyce El-Khoury schlicht fulminant, bombensicher intonierend, bruchlos von den Tiefen zum hohen C aufschwingend, mit gleissend-metallisch klingenden Tönen ebenso auftrumpfend wie mit empfindsamen Piani, der entrückte Schlussgesang eine begeisternde Darbietung belkantistischer Finessen, schwebende, entrückte Piani, saubere Läufe und Koloraturen, ein stimmliches Fest, eine „Messe der Stimme“Genau dieses messa di vocebeherrscht auch Arthur Espiritu mit seiner stupenden Technik in der anspruchsvollen Tenorrolle des Gualtiero. Auch er glänzt mit fantastisch sicherer Intonation, ungefährdet sowohl in den vielen Forte-Passagen, als auch in sehr schön gestalteten Piano-Phrasen.

Espiritu überzeugt mit wunderbar dynamisch abgestuftem Vortrag, herrlichen Höhen bis zum hohen D! Doch das Belcanto-Glück hat damit noch kein Ende: Auch Marco Cariaals Mafiaboss Ernesto überzeugt mit seinem kernigen Bariton restlos, gibt den selbstbewussten Machtmenschen ebenfalls mit stupender musikalischer Sicherheit und vokaler Geschmeidigkeit. Szenisch und gesanglich ganz besonders erwähnenswert die Szene im Gemach Imogenes, wo der Knabe erst die lautstarke Auseinandersetzung zwischen seinen Eltern mitanhören muss (Szenen einer Ehe) und das darauffolgende Terzett, das dann im Duell (hinter der Szene) zwischen Ernesto und Gulatiero eskaliert. Stets eine sichere Bank in St.Gallen ist der hervorragende Bassist Martin Summer, der dem Goffredo gewichtiges Profil verleiht. Die Qualität einer Regiearbeit lässt sich oft auch an der Behandlung der Nebenfiguren und des Chors ablesen. Bei Ben Bauers Arbeit erhalten auch die beiden besorgten Gefährten Gualtieros (Itulbo) und Imogenes (Adele) genau gezeichnetes Profil und diese kleinen Partien werden von Riccardo Botta und Tatjana Schneider sehr klangschön interpretiert. Mit herausragender Kraft singen der präzise intonierende Chor des Theaters St.Gallen und der Opernchor St.Gallen(Einstudierung: Michael Vogel). Besonders eindringlich singt und agiert er im Finale I, wo sich das Drama in einem Zeitlupentanz des Chores und schliesslich Imogenes mit Ernesto zuspitzt und sie dann beim Abgang (wie Melania Trump ...) die Hand ihres Gatten wegschubst.

Bellinis orchestrale Sprache mag nicht die differenzierteste sein, legte er doch den Schwerpunkt auf die gesangliche Melodie und deren Linie, doch Stimmungen vermochte er allemal auch aus dem Orchester heraus zu erzeugen. Diese werden vom Sinfonieorchester St.Gallen mit fein ziselierter Akkuratesse gespielt, wunderschön zum Beispiel das Englischhorn und die Flöte in der Schlussszene. Der Dirigent diese Abends, Stéphane Fromageot, kann es aber auch, wo nötig, ordentlich und effektvoll krachen lassen (Sturm), achtet jedoch auf eine ausgewogene Balance und feine solistische Zwischentöne.

Ganz besonderes Lob verdient Elhat Hoti in der stummen Rolle von Imogenes Sohn: Es ist bestimmt für ein Kind nicht ganz einfach, sich vom Vater (oder Stiefvater, denn ganz so klar ist es nicht, ob Ernesto wirklich der leibliche Vater ist ...) zu blutigen Ritualen missbrauchen zu lassen und dann von der Mutter noch erdolcht zu werden!

Voll besetzt war das Theater St.Gallen an diesem Pfingstsamstagabend leider nicht – Opernfreund*innen des Belkanto und von intelligenten, spannenden und stimmigen Inszenierungen sei die Pilgerfahrt nach St.Gallen wärmstens empfohlen!

Kaspar Sannemann, den 19. Mai 2018

Bilder (c) Iko Freese

 

 

FIDELIO

15.03.2018

Beethovens einzige Oper FIDELIO ist ein Werk, bei dem das Ohr den fast unmöglichen Spagat vollziehen muss mehr der Musik als dem Text zu lauschen. Denn der Text in seiner holprigen Biederkeit ist für heutige Ohren unerträglich, das gilt in erster Linie natürlich für die gesprochenen Dialoge, setzt sich aber auch in den Arien und Ensembles fort. Einige Regisseure (so z.B. Andreas Homoki am Opernhaus Zürich) haben die gesprochenen Dialoge deshalb ganz gestrichen, was aber insgesamt dem Werk auch nicht viel weiterhilft, da die Texte in den musikalischen Nummern natürlich verbleiben müssen. So bleibt dem Zuhörer also nur die schwierige Aufgabe, über weite Strecken von Zweikanal-Empfang (Text, Musik) auf Einkanal-Empfang (nur musikalische Struktur) zu schalten. Immerhin unterstützt die Inszenierung von Jan Schmidt-Garre, die nun in St.Gallen zum 50 Jahr Jubiläum des Sichtbetonbaus des Theaters am Stadtpark gezeigt wird, diese anspruchsvolle Aufgabe für den Zuschauer. Zwar belässt Schmidt-Garre die erste singspielhaft-betuliche Nummer (Duett Marzelline-Jaquino) in der Oper, streicht jedoch die oft geschmähte Goldarie Roccos (Beethoven hatte sie für seine zweite Fassung ebenfalls gestrichen, sie in der Endfassung jedoch später mal wieder eingefügt), ansonsten jedoch verzichtet der Regisseur auf jeglichen Aktionismus, auf konkrete Visualisierung der Handlung; er überhöht sie von Beginn weg ins utopisch Ideelle, spürt dabei den inhärenten, gesellschaftlich und politisch relevanten Revolutionsaspekten des Werks nach.

Dabei umgeht er sehr geschickt die Travestie, bei ihm erscheint Leonore von Beginn weg als Frau, losgelöst von allen anderen Mitwirkenden. Eine moderne Frau, die quasi als roter Engel ihre Werte in die in Zwängen (Mäntel) gefangenen Unterdrückten des Ancien Régime trägt, eine Saat keimen lässt, welche am Ende diese Charaktere zu (wiederum uniformen) modernen Menschen macht. Einzig der arg gebeutelte Pizarro verharrt in seinem vorrevolutionären Outfit (Kostüme: Yan Tax). Leonore wird also von Beginn weg wortwörtlich auf einen Sockel gestellt, ein Denkmal und Sinnbild für die emanzipierte Frau, die Erlöserin (von der Florestan in seiner grossen Szene träumt). Damit umgeht Schmidt-Garre jegliche Travestie, die Gefahr des Umschlagens in eine Verkleidungs-Boulevard Komödie. Natürlich entsteht durch diese Konstellation der Nichtverkleidung Leonores als Fidelio (der Titel macht nun eigentlich keinen Sinn mehr, man müsste die Oper wieder LEONORE nennen, wie Beethoven dies auch für seine Zweitfassung tat) ein weiteres Problem: Wie erklärt man die Faszination Marzellines mit dieser Frau? Ist es eine ideelle, eine emanzipatorische Anziehungskraft, oder spielt auch die Entdeckung gleichgeschlechtlichen Verführens und Verlangens eine Rolle? Zumindest der zarte Kuss zwischen Leonore und Marzelline im Schlussbild lässt dies erahnen. Durch den Verzicht auf die Verkleidung und das ständige Verharren Leonores auf dem Sockel des eigenen Denkmals bleibt diese Leonore eine nicht fassbare, eben engelhafte Gestalt, ist wie aus dem eigentlichen Drama ausgeblendet, in das sie selten wirklich eingreift, nicht einmal als Marzelline von den Gefangenen missbraucht wird. So wirkt der Abend über weite Strecken fast oratorienhaft statisch, eine nachvollziehbare Interaktion findet selten statt, einiges an der Dramaturgie des Ablaufs wirkt irgendwie unfertig, bruchstückhaft – aber eben mit dem grossen Vorteil, dass man sich ganz auf die wunderbare Musik Beethovens konzentrieren und sich vom Biedermeier des Textes lösen kann.

Es ist ein erstaunlich „schlanker“ Beethoven-Klang der da aus dem Graben steigt und sich auf der Bühne fortsetzt. Otto Tausk und das Sinfonieorchester St.Gallen musizieren mit grösster Sorgfalt, stimmig gewählten, nicht überhasteten Tempi und subtil abgestimmter Dynamik. Nicht nur in der traditionellen Fidelio Ouvertüre können die Musiker*innen des Orchesters ihre Kunst beweisen, auch in der Leonoren Ouvertüre Nr. 3, welche zwischen Kerkerszene und Schlussbild eingefügt wurde. Diese auf Gustav Mahler zurückgehende Tradition des Einfügens von Leonore 3 macht insofern Sinn, als nach dem Duett O namenlose Freude und dem etwas undramaturgisch statisch gehaltenen Festtableau zum Schluss durch die Leonore 3 eine Art Rückblick und Apotheose musikalisch vollzogen wird. Allerdings ist dieses Einfügen von Leonore 3 zu Beethovens Lebzeiten nie gemacht worden. Insofern ist es nicht ganz konsequent vom verantwortlichen künstlerischen Team, dass man sich beim Streichen von Roccos Goldarie dann wieder auf Beethovens Intentionen beruft. Das Vorgehen zeigt jedoch, dass Beethovens FIDELIO durchaus als „work in progress“ aufgefasst werden kann.

Das behutsame Musizieren darf man auch mit Fug und Recht den Interpret*innen auf der Bühne attestieren. Jacquelyn Wagner geht die Partie der Leonore mit einfühlsamer Zurückhaltung an, überzeugt mit ausdrucksvoller Tiefe und wunderschön gerundeter Höhe, weiss an der richtigen Stelle ihren sauber zentrierten Sopran aufblühen zu lassen. Herrlich das Ansetzen der Töne im mezzo-piano bei der Stelle „so leuchtet mir ein Farbenbogen“ und das Einschwenken in ihre grosse Arie danach mit der bewegendenen, strahlenden Steigerung zu „die Liebe wird's erreichen“. Am ergreifendsten aber gestaltet Frau Wagner das „O Gott – welch ein Augenblick“ im Schlussbild, das habe ich noch selten so sauber, so fein, so berührend gehört. Norbert Ernst singt den Florestan mit grandioser Einfühlsamkeit, ohne übertriebene Dramatik oder (hörbare) Kraftanstrengung, ja beinahe schlicht, aber immer ehrlich im Ausdruck, überzeugt mit seiner ausgezeichnet sitzenden, schön und hell timbrierten Stimme, mit einer Leichtigkeit des Ansatzes, welche manchem Heldentenor in dieser Rolle abgeht. Als Pizarro konnte man Roman Trekel von der Staatsoper Berlin gewinnen. Seinem sauber geführten Bariton mag es für den Bösewicht etwas an durchschlagender Kraft und Schwärze in der Tiefe fehlen, doch macht er dies mit einer sublimen, ja schon beinahe diabolischen Textgestaltung mehr als wett. Sein Zorn, seine Wut, die er nur mit äusserster Anstrengung im Zaume halten kann, sind von atemberaubender Intensität.

Im Schlussbild ist er ein gebrochener Mann (der in der Kerkerszene von Florestan und Leonore beinahe zu Tode getrampelt wurde), verharrt als einziger auf der Bühne in der alten Uniform des Ancien Régime. Ganz hervorragend gestaltet Wojtek Gierlach den Rocco, begeistert mit einer unforcierten Sonorität in der Tiefe (und man bedauert, dass ihm das Paradestück der Goldarie vorenthalten wurde!). Tatjana Schneider gibt die Marzelline mit sehr sanfter und ausgesprochen mädchenhafter, heller Sopranstimme. Sie ist eine der wenigen Figuren in dieser Inszenierung, die vom Regisseur überzeugendes Profil erhalten. Zu Jaquino hingegen schien Regisseur Schmidt-Garre nicht allzu viel eingefallen zu sein. Riccardo Botta jedoch holt stimmlich das Maximum aus der eher undankbaren Partie heraus. Einen überragenden Auftritt legt (einmal mehr) Martin Summer als Don Fernando hin: Ihn scheint man in jeder (noch so kleinen) Basspartie einsetzen zu können – das Ergebnis ist jedes Mal überwältigend. Michael Vogel hat insbesondere den Männerchor gut auf die Aufgabe vorbereitet, der Gefangenenchor aus FIDELIO ist ja auch ein wunderbares und dankbares Stück Musik, welches durch die beiden solistisch hervortretenden Gefangenen Marc Haag und Frank Uhlig noch zusätzlich an Eindringlichkeit gewinnt.

Im Schlussbild verharrt der Chor lange hinter einer der mobilen Wände (das schlichte, aber in seiner Geradlinigkeit sehr stringente Bühnenbild stammt von Nikolaus Webern), bevor er dann sichtbar wird, zusammen mit dem grün belaubten Baum der Hoffnung auf eine bessere Welt, ein Hoffnung, die wahrscheinlich nie erfüllt werden wird, auch wenn Leonore nun ihren Denkmalssockel nicht mehr braucht, er ist im Bühnenboden eingeebnet, aber noch sichtbar – wahrscheinlich muss er bald wieder für einen neuen utopischen Erlöser oder eine Erlöserin hochgefahren werden.

Fazit: Intelligente Grundidee, die noch etwas unfertig wirkt, aber dem Zuschauer die Konzentration auf den übergeordneten, ideellen Charakter des Werks ermöglicht. Wunderbar unheroisches, mit feinem und gut aufeinander abgestimmtem Pinselstrich gestaltetes Musizieren.

Anmerkung: Vor 50 Jahren sang in St.Gallen übrigens keine Geringere als Inge Borkh die Leonore!!!

Bilder (c) Toni Suter / T & T Fotografie

Kaspar Sannemann 19.3.2018

 

 

DER ZAUBERTRANK

(LE VIN HERBÉ)

Premiere am 02.02.2018

Gelungene Rarität

Es ist schon ein besonderer Trank, den uns Frank Martin in seinem weltlichen Oratorium DER ZAUBERTRANK (LE VIN HERBÉ) da kredenzt: Seine chromatische-lyrische Tonsprache, mit diesen um lang gehaltene Basstöne kreisenden Harmonien und Zwölftonreihen, die aber immer irgendwie doch tonal fixiert sind, entfaltet eine berührend-suggestiver Eindringlichkeit, zieht uns in einen tranceähnlichen Sog, nimmt uns mit auf eine Reise von beinahe morbider Faszination. Und wenn dann ein so grandioses, engagiertes und überzeugendes Team am Werk ist wie in der Lokremise in St.Gallen, dann kann man von einem überwältigenden Abend sprechen, einem Abend, der lange nachhallt, weil hier einfach alles stimmig ist, vom Spielort bis zu den Ausführenden. Martin hat seine Werke nie „Oper“ genannt, da sie nichts an Genretypischem, Opernhaftem enthalten.

Gerade deshalb ist die Lokremise ein überaus passender Spielort für diese „archaische Keuschheitslegende“ wie Ulrich Schreiber sie in seinem Opernführer für Fortgeschrittene betitelte. Die ovale Spielfläche, um die sich arenenartig sechs Tribünenblöcke für die Zuschauer gruppieren, mit grossen Spiegeln in den Gängen zwischen den Tribünen, welche die Spielfläche mystisch in die Unendlichkeit erweitern, sorgen für eine bezwingende Nähe zum Geschehen, einer Nähe, der man sich nicht entziehen kann. Die Regisseurin Polly Graham hat diesen Raum mit faszinierender Gestaltungskraft in ihr Regiekonzept integriert, lässt ihn zusammen mit der Choreografin Jo Fong, dem Lichtdesigner Tim Mitchell und durch die Solisten, den Chor und die Statisten spannungsreich okkupieren. Und obwohl das Stück eigentlich handlungsarm ist, die „action“ meist vom Chor und Erzählern aus dem Chor heraus vorangetrieben wird, bricht der Bogen der Intensität nie ab, man bleibt stets involviert, die 100 pausenlosen Minuten vergehen wie im Flug. Gerade weil der ungewöhnliche Raum so intelligent genutzt wird, braucht es wenig Ausstattung. April Dalton hat aber das Wenige überaus klug eingesetzt, den Chor schwarz gekleidet, ebenso die Solist_innen, mit Ausnahme der Isold (weiss) und des Tristan (grauer Anzug, weisses Hemd).

Nur schon der Prolog reisst die Zuschauer_innen mitten hinein ins Werk: Die Chorsänger_innen gehen ganz nah entlang der Tribünen und schauen und singen (... wollt ihr hören ein schönes Lied von Liebe und Tod? ) uns direkt ins Gesicht, wir sind also von Beginn weg Teil und Beteiligte des Dramas. Der Chor des Theaters St.Gallen macht das ganz wunderbar, so nahe kommt man diesen hochklassigen Sängerinnen und Sängern nur ganz selten, durch die ständige Bewegung (die nie hektisch wirkt) hat man mal eine Sopranistin ganz nah am Ohr, dann wieder einen balsamischen Bass, eine Altstimme, einen Tenor. (Einstudierung: Michael Vogel). Die sieben Streicher und der Flügel sind direkt vor der grossen Fensterfront der Lokremise platziert, draussen sieht man Züge vorbeirollen (hört davon aber nichts!), blickt in den winterlichen Nachthimmel, drinnen darf man den wunderbar lyrisch intonierten Phrasen, Kantilenen und Wendungen lauschen (traumhaft schön spielen Adriana Ostertag, Anna Zimmermann, Ladina Zogg, Erin Torres, Eri Putz, Juan Camilo Gómez Lizarazu und Ikuma Saito, dazu der mit herrlich weichem, sanft perlendem Anschlag spielende Paul Lugger am Flügel), welche unter Hermes Helfrichts leitenden Händen mit betörender Wirkung erklingen, eine reizvolle Atmosphäre und mystisch entrückte Grundstimmung schaffen. Die Präsenz des jungen Dirigenten ist dabei genauso faszinierend (er atmet mit den Sängern – und spricht den Text stumm mit) wie das Spiel der acht Instrumentalisten des Vorarlberger Landeskonservatoriums, welche diesen bewegenden Klangkosmos Martins so souverän interpretieren, als sei diese Musik Teil ihres Standardrepertoires.

Einige der Chorsänger_innen übernehmen auch kleinere solistische Partien – und dies auf überzeugende Art: So Manuela Iacob Bühlmann mit ihrem dunklen, interessanten Timbre als Isolds Mutter, Candy Grace Ho als Isold die Weisshändige und Paulo S.Medeiros als Herzog Hoël. Als Brangäne zeichnet Tatjana Schneider ein besorgtes Porträt von Isolds Begleiterin („Ihr habt getrunken Euren Tod“ geht wahrlich unter die Haut), Riccardo Botta ist ein ebenso besorgter Kahedrin und David Maze verströmt mit seiner warmen Stimme die am Ende verständnisvolle Milde von König Marke. Ganz speziell aufhorchen lässt der Bass von Martin Summer als Erzähler: Eine Stimme, die einen sofort in ihren Bann schlägt, so fein geführt und doch so eindringlich die Dramatik gestaltend. Und da sind dann natürlich noch die beiden Hauptpartien – Isold und Tristan. Mit Sheida Damghani und Nik Kevin Koch ist das unglückliche Liebespaar stimmlich und darstellerisch geradezu ideal besetzt.

Sheida Damghani vermag ihren wunderschön blühenden Sopran gewinnend und berührend einzusetzen, bringt ihre anfängliche Wut, ihre spätere Zuneigung, ihre Leidenschaft und ihre finale Verzweiflung mit schlichter Glaubhaftigkeit zum Ausdruck. Nik Kevin Koch zeigt einen faszinierenden Tristan, da ist der jugendlich-überschäumende wilde Kämpfer genauso präsent wie der seine Leidenschaft erfahrende, die Triebe nur schwer unter Kontrolle haltende junge Mann. Doch da sind auch die sanfteren, verletzlicheren Aspekte seines Charakters zu hören, welche der Tenor Nik Kevin Koch mit seiner auf solidem Fundament aufbauenden, fantastisch gut fokussierten Stimme zu transportieren vermag und mit welcher er die Schattierungen seines Charakters differenziert auszuloten im Stande ist. Es gibt in Beziehungen nicht nur Weiss und Schwarz – gerade deshalb passt Tristans grauer Anzug so trefflich.

Frank Martins charismatisches weltliches Oratorium ist leider nicht allzu oft szenisch zu erleben. Die Webseite operabase.com z.B. listet für die Saison 2017/18 nur gerade zwei Produktionen: Die der Long Beach Opera in Kalifornien und die oben besprochene des Theaters St.Gallen. Also nichts wie hin in die Lokremise, direkt beim Bahnhof St.Gallen!

Bilder (c) T+T Fotografie | Tanja Dorendorf

Kaspar Sannemann 4.2.2018

 

 

 

LA BOHÈME

21.10.2017

Er gehört zweifelsohne zu den ergreifendsten Opernmomenten der gesamten Literatur, der Schluss von Puccinis LA BOHÈME, diese Szene, in der alle von Rodolfos Freunden wissen, dass Mimì ihr Leben ausgehaucht hat, nur Rodolfo nicht. Und wenn er es dann realisiert, seine Erschütterung und Verzweiflung musikalisch von Puccini so wirkungsvoll eingefangen wird, dann kann man sich auch nach gut zwei Dutzend erlebten BOHÈME – Aufführungen der emotionalen inneren Aufruhr, der Tränen kaum erwehren. Das war auch gestern Abend in St.Gallen der Fall – man spürte die Ergriffenheit des Premierenpublikums deutlich, der Schlussapplaus war erst relativ zurückhaltend steigerte sich dann jedoch allmählich zum Begeisterungssturm für alle Ausführenden. Er war aber auch berührend und bewegend inszeniert, dieser Moment, in dem die Gesangsstimmen und das Orchester schweigen und nur ein paar geflüsterte Sätze zu vernehmen sind, bevor sich dann die Musik ins Herz bohrt, begleitet von Rodolfos verzweifeltem, finalem Ausbruch. Das Inszenierungsteam Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Ausstattung) drehte nun durch die Einbettung der Geschichte um Rodolfo und Mimì in eine Rahmenhandlung einer an Krebs erkrankten jungen Frau aus der Gegenwart noch zusätzlich an dieser emotionalen Schraube.

Begonnen wird auf einem Marché des Puces in Paris in der Gegenwart, mit Touristen, einer schwarzen Strassensängerin und einer jungen Frau, welche durch die feil gebotenen Waren stöbert, ein antikes Grammophon entdeckt. Die ersten Takte aus LA BOHÈME erklingen aus dem Grammophon, die Frau (sie nimmt ihr Kopftuch ab, man sieht deutlich die Folgen der Chemotherapie) träumt sich in die Scènes de la vie de bohème hinein, sieht sich selbst in der Rolle der kranken Mimì. Das ist alles fantastisch gekonnt gemacht, dieser fliessende Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit. Der Regisseur und der Ausstatter verlegen die eigentliche Handlung der Oper ins Paris der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts, in die Zeit, in der viele Künstler und junge Menschen, welche nach dem ersten Weltkrieg nicht in ihre Heimatländer zurückzogen, sondern in Kontinentaleuropa blieben und insbesondere das aufregende und freizügige Leben in Paris geniessen wollten. Sie wurden von Gertrude Stein als „die verlorene Generation“ bezeichnet, Künstler und Schriftsteller wie Hemingway, T.S. Eliott, F.Scott Fitzgerald, Beckett, Joyce, Picasso, Braque, Giacometti (eine seiner Skulpturen war auch auf der Bühne zu sehen) u.v.a.m. gehörten zu dieser Gruppe. In diesem Setting nun entwickeln Doucet und Barbe mit einer Plastizität und Plausibilität sondergleichen die tragische Geschichte um Mimì und Rodolfo.

Dabei gelingt ihnen eine Personenführung von geradezu beispielhafter Intensität und Genauigkeit, da ist bis in die kleinsten Nebenfiguren und die Rollen der Menschen im Chor einfach alles mit einer überragenden Stimmigkeit und Detailgenauigkeit inszeniert, die von Beginn weg fesselt. (Es handelt sich um eine Koproduktion mit der Scottish Opera Glasgow, für die szenische Einstudierung in St.Gallen war Peter Lorenz verantwortlich.) Dem Theater St.Gallen ist es gelungen, die Rollen dieser jungen, ausgelassenen Künstler mit herausragenden, ihre Charaktere mit immenser Genauigkeit auslotenden Sängerinnen und Sängern zu besetzen. Ein solch intensiv turtelndes und bis über beide Ohren verliebtes Paar, wie es Sophia Brommer (Mimì) und Leonardo Capalbo (Rodolfo) darstellen, habe ich persönlich noch nie in den ersten zwei Bildern einer BOHÈME erlebt. Das Spiel dieser beiden ist von einer begeisternden Glaubwürdigkeit, genauso wie das aller anderen Protagonisten.

Vor allem David Stout als Marcello spielt den Maler umwerfend gut, die Achterbahn seiner Gefühle zu Musetta wunderbar transportierend, dabei immer der überbordende Spassmacher, vom Urinieren auf sein Gemälde von der Teilung des Roten Meeres (wobei das überhaupt nicht provozierend ist, sondern der Regisseur hat den Text einfach wortgetreu umgesetzt, Marcello „ersäuft“ den Pharao auf dem Bild ...) bis zur ausgelassenen Gavotte, welche er zusammen mit Rodolfo im vierten Bild tanzt. Seine Musetta wird als Josephine Baker – Verschnitt dargestellt. Jeanine de Bique macht das überragend (sie interpretiert auch schon die Strassensängerin in der eingefügten Rahmenhandlung), spielt verführerisch und augenzwinkernd mit ihren Reizen in der Verführungsszene im zweiten Bild (ein table dance an der Stange eines Karusselpferdchens). Im dritten Bild streitet sie sich herrlich selbstbewusst mit dem eifersüchtigen Marcello und im letzten Bild ist sie die rührend besorgte Freundin der Mimì. Auch die beiden anderen Künstler dieser WG, Colline und Schaunard, erhalten durch Tomislav Lucic und David Maze prägnantes Profil. Doch die erwähnten Interpreten sind nicht nur überragende Darsteller, nein sie singen auch vortrefflich. Sophia Brommer begeistert mit ihren wunderbaren Piani und Diminuendi. Im ersten Bild klingt ihre Stimme im mezzoforte bis forte Bereich noch etwas kühl, doch dieser Eindruck legt sich zusehends und man erfreut sich an einer klug die dynamischen Bandbreiten auskostenden vokalen Interpretation.

Sehr gut passt der weich und samten ansetzende Tenor von Leonardo Capalbo als Rodolfo zu ihr, kein tenoral protzender Schluchzer-Held, sondern ein ehrlich und geradlinig singender junger Mann, mit wunderbarer Phrasierung und sicherer, unprätentiöser Höhe. David Stout als Marcello verfügt über einen satten, voluminösen und charaktervollen Bariton, bei ihm stimmt einfach alles, jede Regung des Gefühls findet ihren Ausdruck in der gesanglichen Umsetzung. Jeanine de Bique singt ihr Chanson im Vorspiel (vom Akkordeon begleitet) mit herrlich jazzigem Einschlag, den Walzer auf dem Karusselpferdchen mit einschmeichelnder, warmer Farbgebung und gekonnten Stakkati – Lachern und findet im Gebet im letzten Bild zu berührender Innigkeit. David Maze verleiht dem Schaunard durch viel Witz und Variabilität Gewicht und Tomislav Lucic als trotteliger Philosoph Colline nimmt bewegend Abschied von seinem alten Mantel. Paulo S.Medeiros füllt seine beiden Partien (als altersgeiler Vermieter Benoît und als reicher Verehrer Musettas, Alcindoro) mit komödiantischer Kunst überzeugend aus. Die Farbigkeit des zweiten Bildes wird durch den grossartig singenden und fantastisch agierenden Chor, Opernchor und Kinderchor des Theaters St.Gallen (Einstudierung: Michael Vogel) bereichert. Im Orchestergraben leuchten ebenfalls die wunderbaren Farbschattierungen der so kunstvoll instrumentierten Partitur Puccinis auf, welche der Dirigent Hermes Helfricht den Musikerinnen und Musikern des Sinfonieorchesters St.Gallen entlockt. Er versteht es, sowohl die emotionalen Momente als auch die humoristisch überbordenden Szenen mit durchdachter Agogik zu evozieren. Ein besonderes Lob gebührt dem Akkordeonspieler Raphael Brunner. Seine Variationen des Musetta-Walzers sind eine kleine Preziose in der Umbaupause zum Schlussbild. André Barbes Bühne und die Kostüme aus der Zeit der Zwanzigerjahre und der Gegenwart ergeben eine augenzwinkernde Postkartenkulisse einer Ecke im Quartier Latin, mit wunderbar stimmiger Flohmarktatmosphäre, die sich schnell in Künstler-WG, Kneipen-Szene und winterliche Zollschranke verändern lässt.

Der transparente Zwischenvorhang mit dem Blick über die Dächer der Grossstadt wird im vierten Bild mit frappanter Wirkung eingesetzt. Einzig der Beginn des dritten Bildes an der Zollschranke wollte sich mir szenisch nicht recht erschliessen: Da wurde man wieder kurz in die Gegenwart versetzt, mit Obdachlosen, Security – Männern, streikenden Milchbäuerinnen und einem Karl Lagerfeld, der mit zwei leicht bekleideten Models aus der heruntergekommenen Gaststätte an der Zollschranke kommt. Doch dieser Ausrutscher war dann zum Glück schnell vorbei, und das ergreifende Terzett Mimì – Rodolfo – Marcello, das sich dann mit der dazutretenden Musetta zum Quartett erweiterte, konnte seine volle Wirkung entfalten.

Am Ende stirbt Mimì auf dem Trödler – Sofa in der WG der Künstler, die Freunde und Musetta stehen trauernd vor dem Sofa, treten weg – doch da liegt niemand mehr, nur ein heller Scheinwerfer beleuchtet die Stelle, an der Mimì ihr Leben ausgehaucht hatte. Stark!

André Barbe und Renaud Doucet widmen diese Inszenierung „allen an Krebs erkrankten Menschen, die viel zu früh aufhören mussten zu träumen.“

Bilder (c) Theater St. Gallen

Kaspar Sanneman 23.10.2017

 

DIE GEZEICHNETEN

16.9.2017

Auch wer mit der musikalischen Sprache Franz Schrekers bisher nicht so vertraut war – spätestens nach dem rund zehnminütigen Vorspiel muss man sie lieben, diese ungemein sinnliche, flirrende, ekstatisch sich aufschwingende Musik, die sich in feinst dahin getupfte, intime Sphären zurückziehen kann, um unvermittelt wieder heranzubrausen, sich in geheimnisvollen Dur/Moll Schwankungen zu suhlen, mit einer Farbenpracht der Instrumentierung aufzuwarten, die selbst Richard Strauss' Genius übertrifft. Das Sinfonieorchester St. Gallen unter der sicheren und leidenschaftlichen Leitung von Michael Balke meisterte die schwierige, aber dankbare Aufgabe mit einfühlsamer Souveränität, kostete die soghafte, mitreissende Wirkung dieser Musik (mit Suchtpotential ... ) mit Geschmack, engagierter Spielfreude und überzeugendem Können durch alle Instrumentenfamilien hindurch grandios aus. Dabei achtete Michael Balke sehr genau darauf, dass sich die orchestrale Seite nie zu stark in Richtung Schwulst einer Filmmusik neigte (ohne die überwältigenden Effekte zu negieren), sorgte für Transparenz und ausgewogene Balance zwischen Bühne und Orchestergraben.

Man konnte sich an diesem Abend kaum satthören an diesem spätromantischen, reichhaltig instrumentierten Klangrausch (mit mehrfach geteilten Violinen, ausdrucksstarken Celli, Harfe, Celesta, exzellente Holz- und Blechbläser), der sich nach der Ouvertüre in diversen Zwischenspielen fortsetzte, einen stark motivisch geprägten Untergrund für die Gesangsstimmen bildete, ein manchmal irisierendes, dann wieder verdichtetes Gewoge aus Sehnsucht, Erotik, Dramatik und martialischen Klängen formte.

Einfach zu besetzen ist die Oper wahrlich nicht, denn sie erfordert ausdrucksstarke Sängerinnen und Sänger, die bis zum Äussersten gehen können, ohne dass die Klarheit und Schönheit der Gesangslinie verloren geht, denn sonst droht ein Abgleiten in hysterische Gefilde, die niemand in diesem Werk haben will. Herausragend gut gelungen ist dies in St. Gallen dem ehemaligen Ensemblemitglied des Hauses, Jordan Shanahan, in der Rolle des Grafen Vitellozzo Tamare. Sein einnehmend timbrierter Bariton strahlte Testosteron geschwängerte Potenz und überhebliche (aber überaus charmante) Selbstverliebtheit, sichere Tongebung und markante Linienführung und exzellente Diktion aus. Er bildete das Gegen- und Über-Ich des verkrüppelten, von Selbsthass geprägten Alviano Salvago, der seinen körperlichen Minderwert und die damit verbundenen Komplexe im Streben nach Schönheit zu sublimieren versuchte – kläglich scheiterte, und im Wahnsinn endete. Andreas Conrad gelang mit der Interpretationen dieses komplexen Charakters erneut eine sängerische und vor allem auch darstellerische Glanzleistung in St. Gallen (wo schon sein Herodes in SALOME tief beeindruckt hatte). Herausragend seine Diktion, die Sicherheit der Intonation, mit der er die hohe Tessitura bewältigte, ohne eben hysterisch oder allzu exaltiert zu klingen. Der Moment, in dem ihm klar wurde, dass Carlotta nicht ihn, sondern Tamare begehrt hatte, sich selbst sterbend nach diesem sehnte, gehörte für mich zum eindringlichsten Augenblick des Abends: Wie sich da langsam der Wahnsinn über Andreas Conrads Gesicht ausbreitete, das war schlicht atemberaubend gut gespielt. Die Frau zwischen diesen beiden Männern ist Carlotta, herzkrank, den eigenen baldigen Tod vor Augen, will sie ihre kurze Zeit des irdischen Daseins, des Frau Seins, noch auskosten.

Claude Eichenberger legte die Rolle sehr diesseitig an, sie war nicht die zerbrechliche Femme fragile, die sich in ätherischem Schöngesang ihrem Schicksal ergibt, sondern eine schon fast moderne junge Frau, die endlich den leidenschaftlichen Sex erleben will, auch wenn dies den noch schnelleren Tod bedeutet. Zwar neigte die Stimme der Mezzosopranistin in den höheren Lagen manchmal zu Verhärtungen und unschön schriller Tongebung, doch vermochte sie in ihren langen Monologen durchaus subtile und zärtliche Momente zu evozieren, gestaltete die Rolle vor allem in der grossen Szene im Atelier mit Alviano am Ende des zweiten Aktes mit wunderbarer Empfindsamkeit und öffnete den Blick auf ihre Verletzlichkeit – auch sie eine Gezeichnete. Ihren Vater (Podestà) sang Martin Summer mit überaus gepflegter, wohlklingender Bassstimme. Ausgezeichnet auch der junge Herzog Adorno, gesungen mit differenziertem, fein artikulierendem Bass von Tomislav Lucic (er sang im dritten Akt auch die Rolle des Capitaneo di gustizia, wo er durchaus noch etwas markanter hätte auftrumpfen können). Wichtig für das Verständnis des Stücks sind auch die kleineren Partien. In St. Gallen wurde die wichtige Nebenhandlung (Pietro, Martinuccia) komplett gestrichen, ebenso die Szenen mit den Senatoren, mit dem Jüngling, mit der Familie. Immerhin durfte die von den Adligen entführte und missbrauchte Ginevra Scotti (Sheida Damgani) im dritten Akt auftreten, da die Vorgeschichte mit Pietro und Martinuccia jedoch fehlte, war es für die mit der Oper nicht so vertrauten Zuschauer schwierig, die Szene wirklich zu verstehen. Diese Frauen verachtenden, überheblichen Adligen wurden von Nik Kevin Koch, Riccardo Botta, David Maze, Andrzej Hutnik, Bastian Thomas Koch und Matthias Bein treffend dargestellt. (1. Akt, ihr Auftritt im dritten Akt fiel ebenfalls den Strichen zum Opfer)

Für die Inszenierung und die Ausstattung verantwortlich zeichnete Antony McDonald, dem eine insgesamt sehr stringente, konzentrierte und spannende Inszenierung gelang. Insbesondere die genaue Personenführung vermochte zu überzeugen, ein intensives Kammerspiel, jenseits aller konventioneller Operngestik. Dazu gehören z.B. die Darstellung der abgehobenen Adligen als überhebliche Schnösel einer Studentenverbindung. Herausragend natürlich alle Szenen mit Shanahan: Im ersten Akt räkelt er sich wie eine Schlange auf dem Billardtisch und versucht Carlotta mit der Billardkugel (die verbotene Frucht ... ) zu verführen. Im zweiten Akt lässt Antony McDonald die wichtige Dialogszene zwischen Tamare und dem Herzog in einer Art Locker Room spielen (nach der körperlichen Ertüchtigung durch Fechten) – ein Ort zur Pflege von Männerfreundschaften, politischem Gemauschel, Austausch von und Prahlen mit erotischer Eroberungen. Im dritten Akt, der auf dem Eiland Elysium spielt, sehen wir den Schriftzug ELYSIUM, der stark an den berühmten HOLLYWOOD Schriftzug in L.A. erinnert. Für die letzte Szene drehen sich dann diese riesigen Buchstaben und man erkennt die dunkle Rückseite der „Traumfabrik“ oder eben von Alvianos Traum eines paradiesischen Eilands: Versklavte Sexdienerinnen für die Mächtigen, Schönen und Reichen. Das ist grossartig gemacht und weitaus überzeugender als das doch etwas gar biedere Ballett mit Faunen und Nymphen zu Beginn des dritten Aktes (Choreografie: Beate Vollack), wo dann die Bürger Genuas in Gewändern von Amish People oder Quäkern einen gar nicht allzu grossen Kontrast zu den braven Faunen darstellen. Das hätte man durchaus etwas mutiger und provozierender herausarbeiten können. McDonald verlegte die Handlung von der Renaissance in die Entstehungszeit der Oper, die Zeit des aufkeimenden Faschismus. Damit ist er ganz nahe beim ideologischen Fundament von Schrekers selbst verfasstem Text, nämlich den kruden, die Frauen und Juden herabsetzenden und von homosexuellen Phobien nur so wimmelnden Theorien (Geschlecht und Charakter) von Otto Weininger, diesem zum Protestantismus konvertierten Juden, der im Alter von 23 Jahren Selbstmord begangen hatte und dessen 600seitige Schrift danach von Leuten wie Strindberg, Tucholsky (und auch Mussolini ..) aber durchaus differenziert gewürdigt wurde. Bashevis Singer brachte es auf den Punkt: „Verrückt und genial“. Denn besonders eine Erkenntnis Weiningers ist dann neben aller Abscheulichkeiten seines Ergusses eben durchaus wichtig und prägend für das Verständnis von DIE GEZEICHNETEN: „Wie man im anderen nur liebt, was man gern ganz sein möchte und doch nie ganz ist, so hasst man im anderen nur, was man nimmer sein will, und doch immer zum Teil noch ist. .... Man hasst nicht etwas, womit man keinerlei Ähnlichkeit hat. Nur macht uns oft der andere Mensch darauf aufmerksam, was für unschöne und gemeine Züge wir in uns haben.“ Und über diese Dinge nachzudenken, dazu animiert uns Schrekers grandiose Opernschöpfung – die Aufführung in St. Gallen leistet dazu (neben dem genüsslichen Schwelgen in spätromantischen Klangwelten) einen wichtigen Beitrag.

Bilder(c) Iko Freese

Kaspar Sannemann 18.9.2017

 

 

Alfredo Catalani

LORELEI

Premiere und schweizer Erstaufführung am 23.06.2017

Königin vom Tingeltangel

Lieber Opernfreund-Freund,

nachdem Catalanis „La Wally“ in den vergangenen Jahren auf der einen oder anderen europäischen Opernbühne wieder auf dem Spielplan stand, scheint nun die Zeit für die Wiederentdeckung seiner „Loreley“ gekommen. Das 1890 in Turin uraufgeführte Werk erlebte gestern im Klosterhof Sankt Gallen unter freiem Himmel seine Schweizer Uraufführung im Rahmen der 12. St. Galler Festspiele und damit seine erste Produktion in Europa seit über 14 Jahren.

Das Werk ist eine Umareitung von Catalanis erster abendfüllender Oper „Elda“ aus dem Jahr 1880, die seinerzeit mit ihrer Spieldauer von über vier Stunden beim Turiner Publikum nicht wirklich Gefallen fand, und behandelt im Wesentlichen die Loreley-Geschichte von Clemens von Brentano: Walter hat sich in das Waisenmädchen Loreley verliebt, soll aber Anna von Rehberg heiraten und vertraut sich deshalb seinem Freund Hermann an. Obwohl dieser selbst in Anna verliebt ist, rät er Walter, sich von Loreley zu trennen. Die verstoßene und enttäuschte Loreley ruft die Geister des Rheines an, ihr zu helfen und sie mit unwiderstehlicher Schönheit auszustatten. Dafür verspricht sie sich dem König des Rheins. Am Tag der Heirat erscheint die verwandelte Lorely auf der Hochzeit von Anna und Walter und zieht ihn durch ihren betörenden Gesang erneut in ihren Bann. Anna stirbt an gebrochenem Herzen und Walter bleibt verlassen zurück. Als er Loreley wiederfindet und ihr seine Liebe beteuert, geht sie auf ihren Platz auf dem Felsen am Rhein, den ihr der Rheinkönig zugewiesen hat. Walter ertränkt sich daraufhin im Rhein, während Loreley erneut ihr verführerisches Lied anstimmt.

Zu dieser märchenhaften Geschichte hat Alfredo Catalani bezaubernde, oft stark romantisierende Melodien ersonnen, pflegt einen lyrisch-verspielten Kompositionsstil und malt schillernde Farben aus Klang. Das war aber schon bei der Uraufführung 1890 nicht mehr wirklich zeitgemäß - kaum zwei Jahre später war die Zeit bereits gekommen für den effektvollen, leidenschaftlich aufgeladenen Verismo der „Cavalleria rustivana“. Die Aufwertung des Orchesters, das bei Catalani oft wesentlich mehr ist, als bloßer Begleiter der Sägner auf der Bühne und die er in seiner drei Jahre später uraufgeführten „Wally“ noch weiter vervollkommnet, ist auch in der „Loreley“ mit ihren ausgedrehnten Stimmungs- und Balletszenen spürbar. Auf den letzten Wogen der Wagenrismo-Welle spielt der gebürtige Lucceser aber auch gern mit orchestraler Wucht.

In der „Loreley“ sind Geisterwesen allgegenwärtig, Rheinnixen und Alberich, Hexen und Naturgeister sind wie selbstverständlich Teil der Handlung. Dies nimmt Regisseur David Alden zum Anlass für seine durchaus gewöhnungsbedürftige Lesart des Werkes. Er verlegt die Geschichte in die Überreste eines Vergnügungsparks, der mit den Protagonisten wieder zum Leben erwacht. Walter ist ein goldkettchenbehangener Womanizer im James-Dean-Look, sein Nebenbuhler Hermann steht selbst mit dem Teufel im Bunde, der seinen Pakt gerne mit einem Glas Bier besiegelt. Loreley bezahlt ihre Unwiederstehlichkeit mit körperlicher Übereignung - und endet als Hure in der „Bar Loreley“, in der ihre einstige Schönheit verlebt, die Liebe nur vorgespielt und das augenscheinliche Glück käuflich, aber flüchtig ist - eben wie in einem Vergnügungspark, in dem alles nur Attrappe bleibt. Mag dieser Ansatz auch beim einen oder anderen Festspielbesucher Befremden hervorgerufen haben, ganz unschlüssig ist er nicht. Dazu hätte Alden allerdings stringent bei der Abkehr von der Rheinfelsengeschichte bleiben und seiner skurrilen Bilderwelt voller Mini-Loreleys mit „Chucky die Mörderpuppe“-Masken, gefallener Strassenmädchen und düsterer Gesellen treu bleiben müssen. Das allerdings traut er sich nicht, lässt die Schöne immer wieder auf einen Felsen klettern. Bühnenbildner Gideon Davey hat ihm hier zu allem Überfluss auf der ansonsten im Regiekontext durchaus gelungenen Bühne voller Geister- und Achterbahnreste, Wald und Märchenschloss ein Stück alpinen Berg statt des weltberühmten Felsens im Mittelrheintal untergejubelt (vielleicht als Reminiszenz an den schweizer Aufführungsort). Die bunten, teils schrillen Kostüme von Jon Morell hingegen sind ein einziger Augenschmaus, der in der Robe für die Braut Anna und Loreleys atemberaubendem glänzend-roten Kleid mit gefühlter 100qm-Schleppe seinen Höhepunkt findet.

Glänzend musiziert wird ebenfalls. Stefan Blunier am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen hat hörbar Freude an der feinen Partitur Alfredo Catalanis, geniesst die teils fast kitschigen Melodienbögen und vollbringt zusammen mit den Sängerinnen und Sängern die Meisterleistung, an einem Abend, an dem es sich bei allen Beteiligten um Rollendebuts handelt, den Eindruck entstehen zu lassen, man hätte das Stück schon unzählige Male zusammen auf und über die Bühne gebracht. Mit geübtem Spürsinn für musikalisches Timing, spielt er die komplette Klaviatur der Tempi und Orchesterfarben, trumpf auf, ohne zu übertönen, und wogt sanft und gefühlvoll, ohne zu viel Sentimentalität zuzulassen. Die Litauerine Ausrine Stundyte mag dem einen oder anderen noch aus ihrer Zeit als Ensemblemitglied in Köln oder Lübeck ein Begriff sein. Sie singt schlicht göttlich und trägt die Rolle der Loreley mit so viel Innbrunst vor, zeigt Gefühlsausbrüche ebenso überzeugend wie verführerisch-betörende Höhenpiani, dass es nicht verwundert, dass Walter - ach, dass alle Männer ihr verfallen. Timothy Richards muss sich dagegen offensichtlich erst warm singen - aber ab dem zweiten Akt zeigt der aus Wales stammende Tenor sichere Höhe und große Leidenschaft, auch wenn er mir allzu oft zum Tremolo neigt. Sein vokaler Gegenspieler Giuseppe Altomare gibt den Hermann mit tiefgründigem Bariton voller dunkler Farben, während Tatjana Schneider als bedauernswerte Anna die feinste Höhe ihres klaren Soprans zeigt.

Tomislav Lucic überzeugt ebenso in der leider recht kurzen Rolle der Markgrafen Rudolf wie der ganze Strauß an Chören, der sich gestern versammelt hat, um die umfangreiche Chorpartie gemeinsam zu stemmen. Neben dem Chor des Theaters Sankt Gallen, dem Opernchor St. Gallen, dem Theaterchor Winterthur und dem Prager Philharmonischen Chor war noch der Kinderchor des Theaters St. Gallen notwendig, um alle Bauern, Jäger, Holzfäller, Hexen, Bäuerinnen, Nixen und Kinder auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Michael Vogt, Matthias Heep, Jakub Zicha und Terhi Kaarina Lampi haben deren Einstudierung übernommen und die Damen und Herren - auch die jüngsten - zu wahren Höchstleistungen angespornt. Schlussendlich haben auch die Tänzerinnen und Tänzer der Tanzkompanie des Theaters St. Gallen großen Anteil am Unterhaltungswert des Abends, die originellen Choreografien von Beate Vollack lassen im zweiten Akt wahre Volksfeststimmung aufkommen und erzeugen schwelende Bedrohung im Schlussbild.

Die Zuschauer sind nach gut zweieinhalb Stunden vom Gehörten begeistert, vom Gesehenen zum Teil verstört. Das Produktionsteam schleicht sich im Schlussapplaus irgendwie von der Seite auf die Bühne, vermeidet aber dadurch nicht die eine oder andere lautstarke Unmutsbekundung seitens des Publikums.

Trotz einer hier nicht ganz optimalen Umsetzung - gerade bei einer so großen Rarität in diesem außergewöhnlichen Rahmen hätte man es vielleicht doch eine Prise konventioneller angehen können - lohnt der Weg in die Schweiz allein wegen des außerordentlich hohen musikalischen Niveaus, das die Beteiligten dieser Produktion neben ihrer offensichtlichen Spielfreude vereint.

Ihr Jochen Rüth 24.06.201

Die Fotos stammen von Toni Suter, T + T Fotografie.

 

 

NABUCCO

am 11.03.2017

Zu den grössten Freuden eines musikbegeisterten Operngängers gehört die Entdeckung vielversprechender junger Stimmen. Eine solche Entdeckung gab es gestern Abend im Theater St.Gallen zu erleben: Tareq Nazmi als hebräischer Priester Zaccaria in Verdis Frühwerk NABUCCO. Der in Kuwait geborene Bassist begeisterte mit seinem profunden, in allen Lagen herrlich sonor ansprechenden Organ. Er besitzt eine farbenreiche Stimme, welche über die geforderte volle und schwarze Tiefe, die Trost spendende Sanftheit, aber auch über die mitreissende Kraft des starken Glaubens verfügt. So zählten denn seine Auftritte zusammen mit den phänomenal singenden Chören (Chor des Theaters St.Gallen und Opernchor St. Gallen, einstudiert von Michael Vogel) zu den Höhepunkten eines an musikalischen Effekten reichhaltigen Opernabends. Nur schon die Ouvertüre (vom jungen Verdi etwas gar „billig“ im anbiedernden Potpourri-Stil komponiert) geriet unter der Leitung des neuen ersten Kapellmeisters des Theaters St.Gallen, Hermes Helfricht, zu einem vorwärtsdrängenden, überaus präzise ausmusizierten Kleinod und dieser erste Eindruck bestätigte sich im Verlauf des Abends. Die manchmal etwas simplen orchestralen Begleitfiguren des jungen Komponisten (NABUCCO war seine dritte Oper) füllten sich unter der Leitung Helfrichts mit organischer Kraft und erklangen frei von Banalität.

Das Sinfonieorchester St.Gallen spielte mit vortrefflich austarierter Transparenz, begeisterte mit herrlichen Instrumentalsoli (Cello, Flöte, Englischhorn), sattem, sauberem Blechbläserklang, Genauigkeit im rhythmischen Ablauf und in der Koordination mit der Bühnenmusik. Hermes Helfricht gelang es vorzüglich, den musikalischen Spannungsbogen nicht abreissen zu lassen, sein Dirigat war zielgerichtet, aber nie überhastet. Man darf zu Recht auf weitere Opern-Einstudierungen des jungen Dirigenten (Jahrgang 1992!) gespannt sein! Die Titelrolle wurde von Damiano Salerno mit etwas herb, aber schön hell timbriertem Bariton gesungen. Mit seiner lebhaften Phrasierung vermochte er den komplexen Charakter des babylonischen Königs musikalisch eindringlich zu gestalten, dessen Wandlung vom selbstherrlichen Potentaten zum mitfühlenden Konvertiten mit Plausibilität zu evozieren. Den Aufstieg und Fall seiner herrschsüchtigen „Tochter“ Abigaille (die in Wirklichkeit das Kind von Sklaven ist) stellte Raffaella Angeletti mit grandioser stimmlicher Potenz und beeindruckender Substanz in der Tiefe dar, bewältigte die mörderische Partie mit stupender Sicherheit. Dabei erklangen bei ihr nicht nur metallisch gleissende, dem Charakter angepasste „ordinäre“ Töne, sie verfügte auch über fragile Piani, welche Selbstzweifel, unerwiderte Liebe und am Ende, nach der Einnahme des Giftes, die Bitte um Vergebung auszudrücken in der Lage waren. Die echte Tochter Nabuccos, Fenena, wurde von Susanne Gritschneder mit interessant gefärbtem Mezzosopran verkörpert, für einmal eine Fenena, die nicht einfach die brave, weichstimmig einschmeichelnde Konvertitin, sondern eine Frau mit emanzipatorischem Potential ist. Von schöner Leuchtkraft erfüllt sang sie das herrliche Arioso „Oh dischiuso è il firmamento“ im Finale. Ihr Geliebter Ismaele hat leider von Verdi nicht allzu viele „Noten“ erhalten, schade eigentlich, denn Demos Flemotomos ist ein ganz ausgezeichneter, hellstimmiger Tenor, der seine stimmlichen Fähigkeiten in den wenigen Szenen effektvoll einzusetzen wusste, etwa im Terzett im ersten und in der imponierenden „Gerichtsszene“ im zweiten Teil. Nabucco hatte im Abdallo von Nik Kevin Koch einen treuen Gehilfen mit starker Bühnenpräsenz zur Seite, Abigailles Verbündeter war der Gran Sacerdote von Tomislav Lucic. Aufhorchen liess Tatjana Schneider in der Minirolle von Zaccarias Schwester Anna: Mit glockenreinen Spitzentönen krönte sie die Ensembleszenen der Hebräer.

Über die Inszenierung von Emilio Sagi würde man eigentlich gerne den Mantel des Schweigens ausbreiten – sie findet schlicht nicht statt. Dieser NABUCCO ist eine Koproduktion der Ópera de Oviedo, des Teatro Jovellanos de Gijón, des Theaters St. Gallen, des Baluarte de Pamplona und des Teatre Principal de Palma. Die Premiere fand im Oktober 2015 in Oviedo statt. Der Einheitsbühnenraum von Luis Antonio Suárez mit seinen wuchtigen Mauern wäre durchaus brauchbar für eine Inszenierung des NABUCCO, auch die Lichtgestaltung von Eduardo Bravo und Alfonso Malanda ist stimmungsvoll. Was gar nicht überzeugte, waren die hässlichen und die Protagonisten überaus unvorteilhaft erscheinen lassenden Alltagskostüme von Pepa Ojanguren. Doch selbst darüber hätte man noch hinwegsehen können, wenn auf der Bühne etwas erzählt worden wäre. Dem war nicht so. Unbeholfenes Herumstehen, Teilnahmslosigkeit (Abigaille stets mit verschränkten Armen und Blick nach unten...), von Personenführung oder Charakterisierung keine Spur. Zur Ouvertüre strömen nach und nach Menschen auf die Bühne, lesen die hebräischen (?) Schriftbahnen wie im Museum und scheinen sich dann so in die Geschichte hineinzuleben. Der Ansatz wäre eigentlich nicht schlecht, um die Allgemeingültigkeit von Selbstüberhebung, Religionsfanatismus und deren Auswirkungen zu unterstreichen. Was dann aber folgt ist irgendwie Laientheater, mit den peinlichen Höhepunkten des ersten Auftritts Nabuccos im Tempel und des Hantierens mit einem roten Zwischenvorhang während des Gefangenenchors. Als Zuschauer vermag man keine Empathie mit den Protagonisten zu empfinden, die Geschichte findet keinen dramaturgischen Bogen. Schade und ärgerlich!

Bilder (c) Theater St. Gallen / Tanja Dorendorf T+T Fotografie

Kaspar Sannemann 13.3.2017

 

 

 

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